Ausgabe 02/2021
Der innere Antreiber
Seit Jahren nimmt die Arbeitsintensität in Dienstleistungsberufen zu. Das belegt eine Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit unter dem Titel "Leistungssteuerung und Arbeitsintensität", die der ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit jetzt veröffentlicht hat. Wenn Beschäftigte sich bei steigendem Leistungsdruck aber auch noch selbst antreiben, dann werden für Chefs Wünsche wahr.
Druck durch Sparzwang
"Der Leistungsdruck ist enorm gestiegen", sagt Karin Bartolain, die als Sozialpädagogin in der ambulanten Betreuung Behinderter bei einer kirchlichen Einrichtung in Schleswig-Holstein arbeitet. Zudem ist sie stellvertretende Vorsitzende der Mitarbeitervertretung und hat einen guten Überblick über die Arbeitsbedingungen im Unternehmen. "Uns wird eine bestimmte Zahl an Fachleistungsstunden für die Betreuung der Klient*innen vorgegeben, plus je eine Viertelstunde für Kommunikation, Dokumentation und anderes mehr. Das reicht vorne und hinten nicht." Viele der Sozialpädagog*innen würden unbezahlt länger arbeiten, um den betreuten Menschen gerecht zu werden. Obendrein fehle es an Zeit für einen Austausch im Kollegium. "Die Corona-Pandemie hat die Arbeit zusätzlich erschwert, weil wir nun zweimal wöchentlich getestet werden. Die Tests zählen zwar als Arbeitszeit, doch das nützt nichts, wenn sich die knappe Betreuungszeit weiter verkürzt."
Ähnliche Erfahrungen macht Thomas Maier, Betriebsratsvorsitzender beim Arbeitskreis Gemeindenahe Gesundheitsversorgung in Nordhessen. "Der permanente Sparzwang erhöht den Arbeitsdruck in der Jugendhilfe. Die Betreuungsstunden in der sozialpädagogischen Familienhilfe sind drastisch gekürzt worden. Viele Beschäftigte gehen über ihre Grenzen und werden auf Dauer krank." Die Inhalte der Arbeit würden dem Kostendruck geopfert – zu Lasten der hilfebedürftigen Menschen und der engagierten Fachkräfte.
So läuft es fast überall im Dienstleistungssektor: Den Beschäftigten wird ein Pensum vorgegeben, das sich in der regulären Arbeitszeit kaum erfüllen lässt. Da sie selbst verantwortlich sind, die Ziele zu erreichen, steigt der Stress. "Beschäftigte im Dienstleistungsbereich arbeiten oftmals bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit", so die Herausgeberinnen Nadine Müller und Astrid Schmidt vom ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit in der Studie zu Leistungssteuerung und Arbeitsintensität. Ursächlich seien Methoden, "bei denen die Verantwortung für das Erreichen der geforderten Leistungen an Beschäftigte delegiert wird – oft aber, ohne sie mit den entsprechenden Ressourcen und Handlungsspielräumen auszustatten". Steuerung über Ergebnisse heißt die Methode, die bei zunehmender Digitalisierung oft eingesetzt wird.
Digitale Technik raubt Zeit für eigentliche Aufgaben, merkt Philipp Heinze, Sozialpädagoge und ver.di-Sprecher im Sozialreferat der Stadt München. "Bei steigender Bevölkerungszahl kommen wir kaum hinterher mit allen Anforderungen", sagt er. Ein großer Zeitfresser sei die Dokumentation. Dadurch fehle Zeit für die Betreuungsaufgaben in der Jugend- und Erwachsenenhilfe sowie beim Kinderschutz. "Vor Einführung der IT hatten wir Teamassistent*innen, die uns bei der Kommunikation und Organisation unterstützt haben. Die Stellen wurden gestrichen, sodass wir nun alles selbst managen müssen."
Der Stress macht krank
Bei der Sonderauswertung des DGB-Index 2019 für den Dienstleistungssektor zeigte sich, dass nahezu alle Berufe von Arbeitsverdichtung betroffen sind. 60 Prozent der Beschäftigten, deren Arbeits-leistung über Ergebnisse gesteuert wird, fühlen sich sehr häufig oder oft bei der Arbeit unter Zeitdruck. Die wachsenden Anforderungen an die Beschäftigten haben einen hohen Preis: Viele leisten Mehrarbeit, verzichten auf Pausen und Urlaubstage, können nach der Arbeit nicht mehr abschalten. Der Stress macht die Menschen krank. "Beschäftigte brauchen Entlastung, Gesundheitsschutz, mehr Kolleginnen und Kollegen", schreibt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke im Vorwort zur Studie. Nötig seien stärkere Mitbestimmungsrechte der betrieblichen Interessenvertretungen.
Das wünscht sich auch Frank Weber, Betriebsratsvorsitzender der Württembergischen Versicherung AG in Karlsruhe. Dort sei die Sachbearbeitung in den vergangenen Jahren "stark individualisiert und industrialisiert" worden. Die Kolleg*innen klagten über den Arbeitsdruck, seien aber nicht bereit, sich dagegen zu engagieren. "Früher war das Team für ein bestimmtes Arbeitspensum zuständig, nun bekommt jede*r einzelne sein Aufgabenkontingent. Damit gilt es als persönliches Problem, wenn jemand nicht hinterherkommt." Ausgangspunkt für die Umstellung der Sachbearbeitung war die Forderung der Unternehmensleitung nach jährlicher Produktivitätssteigerung. Doch den Versicherungen gehe es gut, die Sachbearbeitung könne auch anders organisiert werden.
"Hohe Arbeitsintensität kann nur durch gute Arbeitsgestaltung eingedämmt werden", betont Astrid Schmidt. "Diese gilt es durch Tarifverträge zu sichern. Denn die Beschäftigten brauchen sichere, verbindliche und einklagbare Regelungen." Einen solchen Erfolg kann der Personalrat der Sparkasse Marburg-Biedenkopf vorweisen: Auch hier hatte die Geschäftsleitung das Pensum in der Kund*innenberatung individualisiert und ein Punktesystem für alle Beschäftigten eingeführt. "Das haben manche nicht ausgehalten. Als Personalrat wollen wir die Kolleg*innen schützen. Und so haben wir erreicht, dass es inzwischen wieder Teamziele gibt", sagt die Personalratsvorsitzende Elisabeth Schuchmann. Außerdem setzt sich der Personalrat für die Unterstützung und Qualifizierung insbesondere der älteren Beschäftigten ein, damit sie mit neuer Technik umgehen können. So lässt sich Stress mindern.