Digitalisierung wird oft wie ein Allheilmittel für die ungelösten Menschheitsfragen dargestellt. Dass Deutschland hier im Rückstand ist, haben Schüler*innen und Lehrer*innen im Corona-Jahr schmerzhaft erleben müssen. Nicht nur fehlten Gerätschaften für den Distanzunterricht, sondern auch Konzepte und sichere Software.

Weil sie keine Alternative sahen, haben viele Schulen Google Classroom genutzt. Damit bekam der US-Konzern nicht nur weitere Daten, ohne dass klar war, was damit geschieht. Den Kindern wurde auch vermittelt, dass solche digitalen Werkzeuge gut sind, weil ihre Lehrer*innen die ja schließlich auch nutzen. Derweil suchte der gemeinwohlorientierte Verein Cyber4EDU, der sich für Datenschutz, IT-Sicherheit und eine gute Digitalpädagogik einsetzt, häufig vergeblich nach geeigneten Ansprechpartner*innen bei Kultusministerien und Schulverwaltungen.

"Ich bin stinksauer auf die Politik. Die entscheidenden Fragen haben wir schon 2014 auf dem ver.di-Digitalisierungs-Kongress thematisiert – und jetzt hängen wir voll in der Abhängigkeit", sagt ver.di-Gewerkschaftssekretärin Annette Mühlberg. Die Bundesregierung will jetzt viele Milliarden Euro in die Aufholjagd investieren. Doch Digitalisierung ist wie Geld: Entscheidend ist, welche Ziele damit verfolgt werden – und wer die Macht hat, darüber zu bestimmen. "Leider herrscht in Deutschland an vielen Stellen noch ein hohes Maß an Unwissenheit, worauf es ankommt", stellt Mühlberg fest. Wozu eine Software primär dient, entscheidet sich nämlich am Anfang und ist für Laien oft kaum erkennbar. Geht es um Profit, Kontrolle oder ums Gemeinwohl und freie Kommunikation?

Weder nachhaltig noch smart

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Bei der Digitalisierung ist entscheidend, welche Ziele verfolgt werden: Supercomputer HLRE-3 Mistral im Deutschen Klimarechenzentrum, eingesetzt für KlimaforschungFoto: Jan Richard Heinicke

ie großen Digitalkonzerne aus dem Silicon Valley behaupten stets, die Welt besser machen zu wollen. Tatsächlich aber haben Apple, Google, Microsoft und Amazon ein globales Netzwerk gespannt, das die Gewohnheiten und Vorlieben von Milliarden Menschen ausspäht. Immer mehr Lebensbereiche hängen von den Angeboten der "Big Four" ab – und so wirkt das Ganze wie eine sich selbst verstärkende Profit-Maschine. Weil der Umfang der Softwareprogramme ständig wächst, sehen sich die Nutzenden gezwungen, häufig neue Computer, Laptops, Tablets und Smartphones anzuschaffen. Die Geräte werden zwar immer kleiner und leichter. Doch ihre Herstellung benötigt zentnerweise Rohstoffe, darunter auch seltene Metalle wie Gold, Tantal und Kobalt, die kaum recycelbar sind. Und auch wenn das einzelne Gerät relativ wenig Strom frisst, ist der Energiebedarf der Server durch die immer größeren Datenpakete für Streamingdienste, Spiele und beruflichen Austausch rasant gewachsen. In Deutschland verbraucht das Internet inzwischen so viel Strom wie ganz Berlin.

Mit "Smart City"-Angeboten wurden Konzerne in den vergangenen Jahren bei vielen Bürgermeister*innen vorstellig. Dabei geht es um Sensoren, die Straßenbeleuchtung nur bei Bedarf anschalten, um "intelligente" Stromzähler und Verkehrslenkung. Vieles ist im Prinzip sinnvoll, anderes erweist sich eher als nicht durchdacht und eher doof als smart. Wenn öffentliche Papierkörbe melden, sobald sie voll sind, könnte das theoretisch unnötige Fahrten der Stadtreinigung vermeiden – funktioniert aber nicht, wenn Sensoren kaputt gehen oder wegen eines ungeeigneten Klebers selbst im Müll verschwinden. Die Idee in der VW-Stadt Wolfsburg, Schulranzen so zu präparieren, dass Autofahrer auf verdeckt stehende Kinder aufmerksam gemacht werden, wurde dank Elternprotesten dann doch nicht umgesetzt. Wäre es nicht viel klüger, durch eine Verlangsamung des Verkehrs für mehr Sicherheit der Fußgänger zu sorgen?

Für Kontrolle und Überwachung genutzt

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Im Deutschen KlimarechenzentrumFoto: Jan Richard Heinicke

So oder so. Kommen digitale Instrumente zum Einsatz ist entscheidend, wer die Kriterien bestimmt hat, nach denen die Algorithmen programmiert sind, und was mit den Daten geschieht. Seit den Enthüllungen von Edward Snowden ist klar, dass Digital-Konzerne und Geheimdienste eng zusammenarbeiten. Erst im vergangenen Jahr wurde öffentlich, dass sowohl mehrere hundert Privatfirmen als auch Ermittlungsbehörden die Software "Clearview" nutzen, die Zugriff auf eine Datenbank mit drei Milliarden privaten Fotos erlaubt. Die stammen von Facebook, Twitter, Firmen-Webseiten und anderen Internet-Quellen und erlauben, einen Großteil der Zeitgenoss*innen innerhalb von Sekunden zu identifizieren. Diktatoren wie Lukaschenko dürften begeistert sein. Schließlich lässt sich Digitalisierung nicht nur als Geldvermehrungsmaschine einsetzen, sondern auch als Kontrollinstrument.

Bei der Entwicklung derartiger Techniken ist Asien vorneweg. In Singapur hängen überall im öffentlichen Raum Kameras, der Staat sammelt die Daten ein und bestimmt darüber, wer sie für welche Zwecke nutzen darf. In China ist es mit Hilfe einer Corona-App gelungen, die Bevölkerung von Millionenstädten zu kontrollieren. Wer ein Handy haben will, muss sich dort schon seit einigen Jahren einem Gesichts-Scan unterziehen. Das dient dem Sozialkredit-System, das alle Bürger permanent überwacht und ihr Verhalten mit einem Punktesystem bewertet.

Es geht auch anders

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Kabelsalat mit System im SuperrechnerFoto: Jan Richard Heinicke

Doch diese abschreckenden Entwicklungen sollten nicht dazu führen, Digitalisierung per se als schlecht abzuwerten. So wie Geld lässt sie sich auch für Klima- und Umweltschutz, mehr soziale Gerechtigkeit, Bildung, Daseinsvorsorge und eine vertiefte Demokratie einsetzen. Genau das entscheidet sich am Anfang. Geht es der Mobilitäts-App darum, dass möglichst wenig Verkehr in der Stadt entsteht oder sollen die Nutzenden einen persönlichen Vorteil haben, indem sie um den Stau herumgeführt werden? Dient die Videokonferenz-Plattform dazu, die politische Gesinnung der Beteiligten herausfinden zu können, ihre Stimmen für die Verbesserung eines kommerziellen Sprachprogramms zu nutzen oder ihnen einen geschützten Kommunikationsraum zu öffnen?

Die Bundesregierung und die EU haben angekündigt, richtig viel Geld in die Digitalisierung stecken zu wollen. "Das ist jetzt ein großartiger Zeitpunkt zum Umsteuern", so die ver.di-Expertin Annette Mühlberg. Der Blick sollte sich dabei auf die Ziele richten, die mit den digitalen Werkzeugen verfolgt werden sollen. Wie schaffen wir es, dass die Menschheit die planetaren Grenzen nicht immer weiter überschreitet? Wie stärken wir die soziale Gerechtigkeit und machen den öffentlichen Raum wieder zum Gemeingut? Wie schaffen wir sichere Infrastrukturen und geschützte digitale Räume? Wie stärken wir die Demokratie und unterstützen Lernende?

Ist die Marschrichtung klar, muss entsprechende Hardware angeschafft und Software beauftragt werden. Einer Demokratie angemessen sind Lösungen, die öffentlich kontrolliert und bei Bedarf neu ausgerichtet werden können. Die kommenden Monate sind entscheidend: Gelingt es in Europa, eine starke Alternative zu etablieren jenseits des unbegrenzten Profitstrebens der US-Konzerne und des asiatischen Überwachungsstaats? Wahrscheinlich ist das die letzte Möglichkeit, einen neuen Pfad der Digitalisierung einzuschlagen. Diese Chance darf nicht verschlafen werden.

Spezial: Neue Wege

Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen die Digitalisierung vorangetrieben. In Windeseile mussten Schulen auf digitalen Unterricht, Einzelhandel auf Click&Collect und Beschäftigte auf Homeoffice umstellen. Manches war schwierig, manches unmöglich, einiges aber auch sinnvoll, sodass es die Pandemie überdauern wird. Auch die Arbeit von Gewerkschaften wurde erheblich beeinflusst. Tarifrunden und Arbeitskämpfe mussten überwiegend digital stattfinden. Um das Miteinander und den persönlichen Austausch der Beschäftigten trotzdem zu ermög-lichen, ist ver.di neue Wege gegangen. Auch hier wird einiges in Zukunft weiter digital laufen. schmol