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Blutjung und oftmals aus den armen Regionen in Ost- und Südeuropa angeheuert – Flugbegleiterinnen von Ryanair, die im Unternehmen als "Frischfleisch" bezeichnet werdenFoto: ddp images

Als die US-amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild Anfang der achtziger Jahre ihre wegweisende Studie über den Stellenwert von Emotionen in der Arbeit durchführte, war das Fliegen noch etwas Glamouröses. Die mehrheitlich weiblichen Flugbegleiter, die sie für ihre Untersuchung interviewte, waren im Durchschnitt 35 Jahre alt, 40 Prozent von ihnen waren verheiratet. Ausschlaggebend für ihre Berufswahl war, wie es beispielsweise in der Hollywood-Schmonzette Flight Girls von 2003 dargestellt wird, die Hoffnung auf ein Jetset-Leben, auf sozialen Aufstieg und womöglich auch auf das richtige Los auf dem internen Heiratsmarkt der Airlines, auf eine romantische Verwicklung mit einem Piloten also.

Flight Girls ist, wie ich es während meiner teilnehmenden Beobachtung in der Vorbereitung und Durchführung der Arbeitskämpfe bei Ryanair zwischen Juni und Oktober 2018 feststellen konnte, in den Reihen der Belegschaft des Billigfliegers Kult. Doch der Kontrast zur dort dargestellten Arbeitsrealität des Personals könnte kaum größer sein. Dazwischen liegen mehr als ein Jahrzehnt der neoliberalen Liberalisierung des Arbeitsmarkts, die unter anderem im ursprünglich stark regulierten Luftverkehr ihren Ausgangspunkt nahm. Ryanair entwickelte sich infolgedessen zum radikalsten Vertreter des sogenannten No-frills-Geschäftsmodells – der Flugverkehr wurde auf die schlichte Transportfunktion ohne Schnörkel zurückgestutzt, um die Preise radikal zu senken und so die Konkurrenz niederzuringen.

Die radikale Kostensenkung mit allen Mitteln prägt auch den Umgang des Konzerns mit seinen Beschäftigten. Ryanair ist ein Union-busting-Unternehmen: Alle Ansätze gewerkschaftlicher Organisation werden aktiv bekämpft. Ryanair-Chef Michael O'Leary kokettierte damit, dass eher die "Hölle zufrieren" werde, bevor Gewerkschaften akzeptiert würden. Leiharbeitsquoten von über 50 Prozent, Kettenbefristungen, ein repressiver Managementstil und die mittlerweile für unzulässig erklärte Beschäftigung des europäischen Personals nach den laxen Regeln des irischen Arbeitsrechts waren jahrelang Usus. Diesen Praktiken wird erst allmählich, infolge einer europaweiten Kampagne von Pilot*innen und Kabinenpersonal, der Riegel vorgeschoben.

In augenfälliger Differenz zu den von Arlie Russell Hochschild in den 1980ern interviewten Stewardessen sind die in Deutschland stationierten Belegschaften bei Ryanair blutjung. Zudem stammt das in Deutschland stationierte Kabinenpersonal fast ausschließlich aus Ost- und Südeuropa. Im Beschäftigungsmodell von Ryanair überkreuzen sich also mindestens zwei Achsen der Ungleichheit: das soziale Gefälle innerhalb Europas infolge der Finanz- und Eurokrise und die altersbezogene Ungleichheit, die bewirkt, dass junge Menschen eher dazu bereit sind, für einen begrenzten Zeitraum eine unsichere und gering vergütete Beschäftigung in Kauf zu nehmen.

Aufenthaltsstatus als Disziplinarmittel

Der Großteil der Beschäftigten mit Leiharbeitsverträgen – 2018 rund zwei Drittel der Gesamtbelegschaft – befand sich in Probezeit. Hinzu kam ein beträchtlicher Anteil erst seit Kurzem regulär Beschäftigter, die ebenfalls in Probezeit waren. Der hohe Leiharbeiter:innenanteil spiegelt das Wachstum des Unternehmens und die hohe Fluktuation innerhalb der Belegschaft: Ein stetiger Strom junger Berufsanfänger:innen wird angelernt und an Bord eingesetzt. Eine Flugbegleiterin offenbarte, dass diese unter erfahreneren Kolleg:innen als "Frischfleisch" bezeichnet würden. Umso erstaunlicher ist die erfolgreiche Mobilisierung eines Großteils der Belegschaft während der Arbeitskämpfe im Sommer 2018. Die Streikposten des Juli 2018 waren Schauplatz wahrhaft heroischer Opferbereitschaft von Beschäftigten, die ihren Job aufs Spiel setzten, um für bessere Bedingungen zu kämpfen. In manchen Fällen sogar, nachdem sie erst wenige Wochen oder gar Tage im Unternehmen arbeiteten.

Die Situation der Kabinenbeschäftigten bei Ryanair unterscheidet sich deutlich von den Bedingungen beim Billigfliegerkonkurrenten Easyjet: Dort stammt die Mehrheit der in Berlin stationierten Beschäftigten aus Deutschland, ist wesentlich älter, und fast alle sind gewerkschaftlich organisiert. Im Gespräch mit den Kolleg:innen der Berliner Basis über deren Streikerfahrung 2012 ist spürbar, dass Welten zwischen der prekären Lebensrealität der Beschäftigten bei Ryanair und den relativ gut abgesicherten und sozial eingebundenen Kolleg:innen bei Easyjet liegen. Der Schritt hin zu einer offensiveren Einforderung besserer Arbeitsbedingungen ist für Letztere bedeutend einfacher, auch weil sie im Zweifel auf Beschäftigungsalternativen an ihrem Wohnort zurückgreifen können.

Aufgrund der häufigen räumlichen Veränderungen bildet sich innerhalb der Ryanair-Crews ein flüchtiges Dasein heraus – man verliert die Bindung an Orte und Menschen, kann keine neuen Wurzeln schlagen und befindet sich ständig im Übergang zu etwas anderem. Dies verstärkt die Abhängigkeit vom Unternehmen zusätzlich.

Als besonders schwierig stellt sich die Wohnungssuche heraus, zumal die jungen Bewerber:innen meist der deutschen Sprache nicht mächtig und mit den formalen Voraussetzungen des lokalen Wohnungsmarktes überfordert sind. Eine nichtweiße Flugbegleiterin berichtet drastisch über ihre zunächst erfolglose Wohnungssuche in Berlin: "Wir hatten nirgends einen Platz zum Schlafen. Es gab Fälle, da hätten wir fast auf der Straße geschlafen. Beinahe! In der ersten Woche sind wir in ein Hotel gegangen, und wir waren zu sechst zusammen in einem Zimmer."

Hinzu kommen erhebliche finanzielle Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass die jungen Berufseinsteiger:innen sich meist keine Vorstellungen von den tatsächlichen Lebenshaltungskosten an den Einsatzorten (in diesem Fall Oslo) machen: "Ich weiß noch, wie ich einen Liter Milch für drei Euro gekauft habe. Einmal in der Woche in den Supermarkt zu gehen, nur das Nötigste zu kaufen, Milch, Brot und so weiter und dafür etwa fünfzig Euro zu bezahlen. Und ich konnte alles in eine einzige Tüte packen. Das war kein Spaß."

In manchen Fällen entstehen durch diese Fehlkalkulationen wahrlich dramatische finanzielle Engpässe. Der Fall eines italienischen Flugbegleiters, der im eigenen Land stationiert war, illustriert, wie Arbeitsausfälle in der Nebensaison die Gehälter schnell unter das Existenzminimum drücken können: "Jedes Jahr ist in zwei Jahreszeiten unterteilt. Also, es gibt die Sommersaison von März bis Ende Oktober, und jetzt gibt es die Wintersaison. Die Harte. Das ist vom 1. November bis zum 31. März. Also im Grunde fliegt man überhaupt nicht. Also im Grunde genommen war mein Nettoeinkommen 500 Euro."

"Wir sind nicht einfach die Kellnerin des Himmels, sondern wir können Ihr Ansprechpartner auf der Reise sein, die Person, die Ihnen hilft, wenn Sie sich nicht wohlfühlen, wenn Sie eine Panikattacke haben, weil Sie Angst vor dem Fliegen haben."
Ryanair-Flugbegleiterin

Der Zirkel der Desillusionierung

Die Tristesse vieler junger Menschen im erwerbsfähigen Alter in den sozial abgehängten Regionen Europas bildet den Hintergrund, vor dem das Beschäftigungsverhältnis bei Ryanair zunächst meist als Aufbruch wahrgenommen wird. Doch dieses Gefühl mündet bei nahezu allen Beschäftigten schnell in eine umso stärkere Enttäuschung.

Die Unzufriedenheit über das unzureichende Einkommen ist dann oft Antrieb, das Unternehmen über kurz oder lang zu verlassen, war aber auch ein Grund für die hohe Beteiligung an den Arbeitskämpfen im Sommer 2018. Danach gefragt, was diese Streikbewegung in einem tieferen Sinn für sie bedeute, antwortete eine Flugbegleiterin: "Es geht um die Tatsache, dass eine sehr große Firma, die sehr, sehr, sehr viel Geld verdient, sagen wir mal, diese Leute missbraucht, um dieses Geld zu verdienen." Ein zweites wiederkehrendes Thema ist die Kluft zwischen dem beruflichen Ethos der Beschäftigten und den Anforderungen seitens des Managements. Eine Flugbegleiterin erläutert ihr Verständnis des Jobs folgendermaßen: "Die Position des Flugbegleiters ist sehr bedeutend, er ist eine Autorität an Bord. Wir kennen die Regeln, und wir sind nicht einfach die Kellnerin des Himmels, sondern wir können Ihr Ansprechpartner auf der Reise sein, die Person, die Ihnen hilft, wenn Sie sich nicht wohlfühlen, wenn Sie eine Panikattacke haben, weil Sie Angst vor dem Fliegen haben."

Im Berufsalltag spielen Sicherheit und Service jedoch kaum eine Rolle, da das Management die Belegschaft darauf trimmt, als eine Art fliegende Drückerkolonne für Verpflegung und Duty-free-Produkte zu agieren.

Das Aufbegehren der Krisengeneration

Für viele ist der Job bei Ryanair nur eine kurze Station auf dem Weg in eine andere, oftmals nicht weniger prekäre Beschäftigung. Andere bleiben, ohne aber eine dauerhafte Perspektive zu entwickeln. Denn bei Ryanair, gibt es keine langfristigen Aufstiegschancen. Sobald die höchstmögliche Funktion des Pursers, der die Gesamtverantwortung für eine vierköpfige Crew trägt, erreicht ist, bleiben Gehalt und Status unverändert. Doch trotz der Verwundbarkeit und Verlorenheit, die sich in den zitierten Aussagen äußern, setzten sich die Beschäftigten gegen das mächtige internationale Unternehmen, das aggressiv gegen gewerkschaftliches Engagement vorgeht, zur Wehr. Die Streiks des Kabinenpersonals standen auf unsicheren Beinen, da erst wenige Wochen vor Beginn überhaupt ein nennenswerter gewerkschaftlicher Organisationsgrad zu verzeichnen war und das Unternehmen zahlreiche Repressionsmittel gegen Mitarbeiter*innen ins Feld führen konnte, die sich zu einem beträchtlichen Teil in Probezeit befanden.

Die Leidenserfahrung des holperigen Berufseinstiegs, die Verlorenheit am Ort ihrer Stationierung und der vielfach geteilte Wunsch, an einen anderen Ort versetzt zu werden, gaben den Arbeitskämpfen eine tiefere Dimension. Und sie verliehen der Belegschaft in der Ausein-andersetzung die Geschlossenheit einer gepeinigten Kohorte, die als vereinigendes Moment zumindest punktuell wirkmächtiger war als die Verunsicherung aufgrund der prekären Existenz und der Unerfahrenheit. Und gerade wegen der Entfremdung vom Unternehmen, dem moralisch unterfütterten Aufbegehren gegen den Konzern, der so offensichtlich mit skrupellosen Methoden die Not junger Menschen ausnutzt, setzten viele junge Flugbegleiter:innen im Kampf um bessere Bedingungen ihren Job aufs Spiel.

Direkt auf seine Risikobereitschaft angesprochen, antwortet ein junger Kollege aus Italien: "Die Sache ist, ich arbeite für dieses Unternehmen. Aber wenn ich diesen Job verliere, ich meine, ich bin ja nicht blöd, ich kann etwas anderes finden. Ryanair ist nicht die beste Firma, für die man arbeiten kann. Es ist die Schlechteste."

Verkannte Leistungsträger:innen

Der auf dieser Seite in Auszügen dokumentierte Text ist in seiner vollen Länge in dem Buch "Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft" erschienen. Auf knapp 600 Seiten sind in dem Buch eindringliche Berichte und Porträts aus den Dienstleistungsbranchen wie der Pflege, der Erziehung, dem Handel, der Gastronomie, von Reinigungskräften und Friseurinnen vereint. Die Studie über Ryanair steht für den Bereich Tourismus.

erkannte Leistungsträger:innen, hrsg. von Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 579 Seiten, 22 €, ISBN 978-3-518-03601-3