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Menschen friedlich auf dem Platz der Unabhängigkeit in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, kurz auch Majdan genanntFoto: Hoffmann/The New York Times/Redux/laif

Auf einmal soll alles schnell gehen. Was sonst ein Prozess von Jahren ist, soll nur noch eine Angelegenheit von Wochen sein – der Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Das hat Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, mitten im Krieg dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bei ihrem Besuch in Kiew am 8. April 2022 versprochen. Mit dabei hatte von der Leyen die Antragsformulare, die Selenskyjs Regierung inzwischen auch schon ausgefüllt hat. Die Bilder von der gemeinsamen Pressekonferenz wirkten sehr vertraut, sie nannte ihn nicht wie üblich bei solchen Treffen "Herr Präsident", sondern duzte ihn und sagte "lieber Wolodymyr". Er nannte sie Ursula.

Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine seit Jahren eng. Seit 2004 drängt das Land auf einen Beitritt, 2005 ersetzt ein bilateraler Aktionsplan das bis dahin seit 1994 bestehende Partnerschaftsabkommen mit der EU, 2008 wird aus dem Aktionsplan ein sogenanntes Assoziierungsabkommen. Mit ihm ist die Ukraine an die EU gebunden, aber kein Mitglied. 2009 wird die Ukraine dann Mitglied der Östlichen Partnerschaft, mit der die EU ihre Nachbarschaftspolitik zu den Ländern in Osteuropa pflegt, die ein Interesse an einer EU-Mitgliedschaft haben. 2016 schließlich gründet die EU mit der Ukraine, Moldau und Georgien die Freihandelszone DCFTA und baut vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen zur Ukraine aus.

Von der Leyen betonte am 9. April 2022 in der Tagesschau nach ihrer Rückkehr aus der Ukraine vor allem die engen Verbindungen im Energiesektor. Und die EU-Kommissionspräsidentin sagte auch: "Wenn dieser Krieg gewonnen ist, dann werden wir die Ukraine wieder gemeinsam aufbauen müssen. Und wir werden sie reformieren müssen." Die Unabhängigkeit der Justiz sei sehr wichtig und auch beim Umgang mit Oligarchen bestehe großer Handlungsbedarf.

Tatsächlich müssen aktuell in einem EU-Beitrittsverfahren (siehe auch Kasten) 35 Kapitel verhandelt werden, die sämtliche Rechtsbereiche abdecken. Doch es ist schier unmöglich, diese Verhandlungen in nur wenigen Wochen zu durchlaufen. Das zeigen allein frühere und noch laufende Beitrittsverhandlungen.

Die anderen Kandidaten

Kroatien stellte 2003 seinen Antrag auf den EU-Beitritt, erst zehn Jahre später waren alle Kriterien erfüllt und der Beitritt wurde besiegelt. Montenegro hat seinen Antrag 2008 gestellt, seit zehn Jahren laufen nun schon die Beitrittsverhandlungen. Immerhin: Inzwischen sind alle 35 Verhandlungskapitel eröffnet. Im Falle der Türkei sind 2005 formelle Gespräche angelaufen, im November 2016 wurden die Beitrittsverhandlungen jedoch wegen mangelnder Reformen vor allem auch in Menschenrechtsfragen auf Eis gelegt.

Serbien gilt seit dem 1. März 2012 offiziell als Beitrittskandidat. Das Land hat nur dann eine Chance auf eine EU-Mitgliedschaft, wenn es umfassend mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag kooperiert. Erste Schritte hat Serbien diesbezüglich zwar gemacht. Die EU verlangt aber auch die Bekämpfung der Armut und Korruption im südlichen Serbien und die Lösung der ethnischen Konflikte im Kosovo. Die Beziehungen zum Nachbarland sind nach wir vor problematisch.

Beitrittskandidat ist seit Ende 2005 auch Nordmazedonien. Doch erst im März 2020 wurde seitens der EU die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschlossen. Nur: Zum Beginn von Verhandlungen ist es bisher wegen einiger Vetos nicht gekommen. Gleiches gilt für Albanien.

Die Hindernisse

Wie am Ende der EU-Beitritt der Ukraine verlaufen wird, ist deshalb nicht nur vom Krieg und seinen Folgen abhängig. 2009 sagte Jerzey Buzek, der damalige polnische Präsident des Europäischen Parlaments: "Die Tür zur Europäischen Union ist offen. Aber die Umsetzung der Beitrittskriterien ist sehr schwierig. Heute konzentriert sich die Aufmerksamkeit der EU auf den Westbalkan. Die Länder dieser Region haben wesentliche Fortschritte bei der Umsetzung der Kopenhagener Kriterien erzielt. Wenn wir über die Ukraine sprechen, muss man feststellen: In den vergangenen fünf Jahren ist hier kein wesentlicher Fortschritt erzielt worden."

Tatsächlich hat Wolodymyr Selenskyj nach seiner Wahl 2019 zum ukrainischen Präsidenten erste Reformschritte gegen Korruption und die Macht der Oligarchen im Land eingeleitet. Viel passiert ist dennoch nicht. Was die Korruption angeht, ist die Ukraine aktuell auf der Liste von Transparency International mit Platz 122 das Schlusslicht der europäischen Länder. Auch mit Blick auf die Demokratie ist bis Kriegsausbruch noch einiges im Argen gewesen. Es gab Wahlbetrügereien, Verbote und Druck auf die politische Opposition sowie Druck auf Medien. Im Demokratie-Index 2021 des The Economist belegte das Land zusammen mit Mexiko Rang 86 von insgesamt 167 Staaten.

Und auch um die Rechte der Beschäftigten stand es zuletzt nicht gut. Im Gegenteil: Laut dem Gewerkschaftsmonitor 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung wollte die ukrainische Regierung zuletzt den Kündigungsschutz abschaffen, Null-Stunden-Verträge einführen und die Gewerkschaften deutlich schwächen. Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation wie die Vereinigungsfreiheit, die in der Europäischen Union gelten, würden damit verletzt.

Nach heutigem Stand wird die Ukraine wie der Phönix aus der Asche steigen müssen, um alle Beitrittskriterien für ein soziales und demokratisches Europa zu erfüllen. Selenskyjs Vorvorgänger im Amt, Wiktor Janukowytsch, hatte im November 2013 gesagt: "Niemand wird unseren Traum [...] von einer europäischen Ukraine ruinieren." Zu seiner Zeit stimmten nur 56 Prozent der Ukrainer*innen für einen EU-Beitritt. Vor dem Krieg waren es bereits 80 Prozent, laut letzten Umfragen wollen inzwischen 91 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer in die EU.

Wie tritt ein Land der EU bei?

Voraussetzung: Erfüllung der "Kopenhagener Kriterien"

Institutionelle Stabilität, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte, Achtung und Schutz von Minderheiten

Funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten

Übernahme der Verpflichtungen und Ziele der EU, des gesamten gemeinschaftlichen Rechts bzw. des "gemeinschaftlichen Besitzstands" (acquis communautaire)

Beitrittsprozess

1. Antragsstellung

2. EU-Rat bittet Kommission um Stellungnahme, EU-Kommission unterrichtet EU-Parlament

3. Nach positiver Stellungnahme kann der EU-Rat Kandidatenstatus gewäh ren (Voraussetzung: Einstimmigkeit).

4. EU-Kommission empfiehlt Verhandlungen

5. EU-Rat entscheidet einstimmig über Aufnahme von Verhandlungen

6. Bericht der EU-Kommission über Vorprüfung für jeden Bereich

7. EU-Rat entscheidet auf Grundlage der Vorprüfung einstimmig über Öffnung der Verhandlungskapitel

8. Nach Abschluss aller Verhandlungen werden Aufnahmebedingungen, Aus - nahmeregelungen und Übergangs- maßnahmen in einem Beitrittsvertrag festgelegt

9. EU-Parlament und EU-Rat müssen wieder einstimmig Zustimmung erteilen

10. Unterzeichnung des Beitrittsvertrags

EDITORIAL

Mitglieder der Europäischen Staatengemeinschaft müssen feste Voraussetzungen erfüllen, beispielsweise eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung haben und eine funktionsfähige Marktwirtschaft. Europa ist aber kein starres Gebilde. Ob im sozialen Dialog, im Europäischen Parlament oder in der Europäischen Kommission, überall gibt es Bewegung, werden neue Regeln diskutiert und ausgehandelt. Dabei wirken Gewerkschaften in Europa darauf ein, dass sich Arbeitnehmerrechte verbessern – ob bei der Nadelstichrichtlinie, beim Mindestlohn oder den Rechten von Solo-Selbstständigen. Mehr auf diesen Seiten. Lüh