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Was Europäer machen: Miteinander reden und gemeinsam gute Standards für ein besseres Leben entwickelnFoto: Fernandez/picture alliance/dpa

ver.di publik: Was bedeutet dir Europa persönlich?

Dietmar Erdmeier: Ich habe Politikwissenschaft studiert. Der Aufbau der Europäischen Union zieht sich durch mein Leben. Ob Reisefreiheit, Niederlassungsfreiheit, ein gemeinsames Zahlungsmittel, das Lernen einer europäischen Sprache, all das bewirkt, dass ich mich stärker als Europäer fühle. Weitere Länderbeitritte haben den europäischen Gedanken immer wieder bestätigt, gemeinsam für Frieden, Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit einstehen zu wollen. Dabei geht es für mich als Gewerkschafter auch darum, das soziale Gefälle zwischen den Ländern zu verringern, sodass wir in Europa überall einen gleich guten Zugang zu guter Arbeit bekommen.

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Dietmar ErdmeierFoto: privat

Du bist bei ver.di für die Europäische Gesundheitspolitik zuständig und seit mehreren Jahren Mitglied im Europäischen Sozialen Dialog Krankenhäuser. Wie arbeitet ihr da zusammen?

Im Europäischen Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst, kurz EPSU genannt, hat ver.di drei Sitze. Unter dieser Exekutivebene gibt es verschiedene Ausschüsse für die einzelnen Themen. Da habe ich im Gesundheits- und Sozial-ausschuss, Health and Social Services (HSS), ein Mandat von zweien und bin dort gewählter Vizepräsident. Der Soziale Dialog Krankenhäuser (SDKH) bei der Europäischen Kommission ist das nächste Gremium in der Kette, in der EPSU mitentscheidet. Dort habe ich ebenfalls einen Sitz von zweien und arbeite eng mit ehrenamtlichen ver.di-Kolleg*innen zusammen, die ebenfalls an den Sitzungen teilnehmen. Der SDKH wird von der EU-Kommission dreimal im Jahr einberufen. Zudem gibt es eine weitere Arbeitsgruppe als Vorbereitung für einen künftigen Sozialen Dialog Soziale Dienste. Die Mitglieder in den Ausschüssen im Sozialen Dialog und im HSS treffen sich regelmäßig in Brüssel.

Was habt ihr im Sozialen Dialog für Beschäftigte in Krankenhäusern bislang konkret erreicht?

Der größte Erfolg war die Nadelstichrichtlinie zum Schutz der Beschäftigten beim Umgang mit Nadeln und spitzen Gegenständen. Die Richtlinie ist bindend, das heißt, alle Länder müssen sie umsetzen. Ein weiterer Erfolg im Arbeitsschutzstandard ist die Anpassung der Gefahrstoffverordnung im Zuge von Corona. Hier konnten wir durch unsere Expertise in der Selbstverwaltung in der Unfallversicherung und durch die Mitarbeit von ver.di-Vertreter*innen im zuständigen Ausschuss im Bundesministerium für Arbeit auch für andere Länder gut mit argumentieren. So konnte es gelingen, dass Corona 2020 in der Gefahrstoffverordnung als Risikostufe 3 eingeordnet wurde, und damit konnten Beschäftigte und Patient*innen besser vor Corona geschützt werden. Zudem haben wir mit den Arbeitgebern im Krankenhaus eine Rahmenvereinbarung getroffen, die Forderungen zum Gewinnen und Halten von Personal, zu gesetzlichen Personalregelungen und zu Arbeitsschutzmaßnahmen beinhaltet und sich an internationalen Standards orientiert.

Es gibt in Osteuropa EU-Länder, die keine Sozialpartnerschaften zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften kennen. Was machen die?

Sie nehmen ohne Arbeitgeberverbände teil. Das erhöht schließlich den Druck auf die Arbeitgeber, sich auch zu organisieren, da bereits Gewerkschaften vertreten sind. Es gibt schließlich auch gemeinsame Themen wie zum Beispiel die Fachkräftemigration. Ein weiteres Beispiel, dass Arbeitgeber sich nicht ausklinken können, ist die Gefährdungsbeurteilung, denn die ist verpflichtend für alle Mitgliedsländer. Sie bedeutet: Arbeitgeber müssen physische und psychische Gefährdungen ermitteln, bewerten und durch vorbeugende Maßnahmen verhindern.

Wenn sich einzelne Länder in der Europäischen Union nicht einigen können, sind dann Verschlechterungen für Beschäftigte in Deutschland zu befürchten?

Es gibt in vielen Bereichen Mindeststandards auf europäischer Ebene, aber keine Verschlechterungen. Wenn ein Land schon bessere Regelungen hat, dann gilt der Bestandsschutz. Die Standards muss man aber auch hart verteidigen und dazu Haltelinien einziehen.

Noch ist es eine Arbeitsgruppe, doch daraus soll demnächst ein neuer Sozialer Dialog für Soziale Dienste entstehen. Was ist schon darüber bekannt?

Es geht um Soziale Dienste für frühkindliche Bildung, Altenpflege, Behindertenhilfe und weitere Branchen. Hier kommen die Arbeitgeber überwiegend nicht aus dem öffentlichen Dienst – wie beim Sozialen Dialog Krankenhäuser, bei dem die kommunalen Arbeitgeber zuständig sind –, sondern aus der Wohlfahrtspflege. In Deutschland ist die Arbeiterwohlfahrt beteiligt. Bislang gibt es Vorläuferprojekte für den Sozialen Dialog. Die Arbeitsgruppe Soziale Dienste bei der EPSU speist sich aus zwei Ausschüssen, da sind zum Beispiel auch Kitas beteiligt.

Was will ver.di für die Beschäftigten in der Sozialarbeit erreichen?

Die Themen, die wir national schon haben, wollen wir auch auf europäischer Ebene angehen wie: Arbeitsbedingungen, Tarifbindung, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Personalbemessung, Arbeitskräftemigration, Fachkräfte, sozial gerechter Zugang zu den Leistungen, Finanzierung, Abschaffung der Renditeorientierung, Digitalisierung, Ausbildung, Fortbildung, lebenslanges Lernen etc.. Dieselben Themen vereinen uns überall in Europa. Wir wollen ein soziales Europa. Als ver.di bringen wir durch unsere ehrenamtlichen Kolleg*innen die betriebliche Realität mit in den Dialog. Die Politik kann das nicht einfach so wegwischen. Unter anderem haben wir die Missstände in der Pandemie sichtbar gemacht und dass die Menschen am Limit arbeiteten. Impfstoff, Schutzausrüstung, Maskenverteilung, das sind Themen, die uns europaweit betreffen, da müssen wir gemeinsam handeln und unsere Ressourcen gemeinsam einteilen. Viele Dinge können wir nicht einfach den Arbeitgebern überlassen, wie zum Beispiel das Vorhalten von Masken, da mischen wir uns ein.

Wenn ein Sozialer Dialog in Diskussionen stecken bleibt und sich die Dialogpartner nicht einigen können, was passiert dann?

Die Prozesse können langwierig sein, unter Umständen auch sehr zäh. Manches dauert Jahre. Aber es wird in nächster Zeit spannend bleiben, denn die Europäische Kommission will den sozialen Dialog reformieren und beschleunigen. Dabei wird geprüft werden, wie viele Sitzungen pro Jahr wirklich nötig sind und vor allem, was man tun kann, um bremsendes Verhalten einzelner Gruppen zu verhindern. Beispielsweise, wenn deren Leitungen blockieren und fast fertige Papiere immer wieder zurück in den Dialogprozess geben.

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Die Nadel gehört nach dem Gebrauch in die Schutzkappe – die Nadelstichrichtlinie gilt für alle in EuropaFoto: Christian Jungeblodt

Sind die Ergebnisse aus einem Sozialen Dialog für die EU-Kommission bindend?

Die EU-Kommission kann nicht an das gebunden oder dazu verpflichtet werden, was beim Sozialen Dialog gemeinsam entwickelt wird, aber wir sind im Sozialen Dialog europaweit sehr mächtige Sozialpartner. Der Dialogprozess ebnet die Voraussetzungen für bindende Richtlinien seitens der Europäischen Union.

Bitte beende diesen Satz: Wenn ich an Europa denke, dann ...

... denke ich an Vielfalt, an gleiche Themen, an Unterschiede und an Gemeinsamkeiten. Ich denke daran, was für uns wichtig ist, an den Wegfall der Grenzen, an Reisefreiheit, eine gemeinsame Währung, die Niederlassungsfreiheit und keine Mauer mehr mitten durch Deutschland. Und ich denke daran, dass wir mehr Demokratie in einzelnen Ländern haben. Aber auch, dass wir ein gemeinsames Europa immer wieder über Generationen hinweg verteidigen müssen. Demokratie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern muss immer geschützt werden – für Gleichheit und gegen Diskriminierung und für den Frieden in Europa.

Interview: Marion Lühring

gesundheit-soziales.verdi.de/ themen/arbeit-in-europa

Die 5 wichtigsten FAQs

Was ist der Soziale Dialog?

Der Soziale Dialog ist ein Grundbestandteil des europäischen Sozialmodells. In ihm erhalten die Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter*innen) die Möglichkeit, unter anderem durch Vereinbarungen aktiv an der Gestaltung der europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik mitzuwirken. Ziel des Sozialen Dialogs ist es, die europäische Ordnungspolitik durch die Einbeziehung der Sozialpartner in die Beschlussfassung und die Umsetzung zu verbessern. Der Soziale Dialog nimmt unter anderem Einfluss auf Gesetzgebungsvorschläge der EU-Kommission, die in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren von Parlament und Ministerrat verhandelt und beschlossen werden.

Was ist Ziel des Sozialen Dialogs?

Ziel sind Vereinbarungen, die auf Vorschlag der EU-Kommission vom Ministerrat in verbindliche Richtlinien umgewandelt werden. Etwa zur Elternzeit (1995), zur Teilzeitarbeit (1997) oder auch die Nadelstichrichtlinie (2010). Sie regelt, wie Beschäftigte in Krankenhäusern, Pflegeheimen und anderen Einrichtungen im Gesundheitswesen vor Verletzungen durch spitze Gegenstände und Nadeln geschützt werden – europaweit. Weitere Ziele des sozialen Dialogs sind autonome Vereinbarungen, die von den Sozialpartnern gemäß den Gepflogenheiten des jeweiligen Landes umgesetzt werden; zum Beispiel Telearbeit (2002), inklusive Arbeitsplätze (2010) oder das Thema Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz (2007).

Wofür steht der Soziale Dialog noch?

Der Soziale Dialog hilft auch, um voneinander zu lernen. Beispielsweise gibt es nicht in allen Ländern Tarifverhandlungen mit Sozialpartnern, durchaus aber Interesse an den Abläufen. Auch werden gemeinsame Erklärungen aufgrund des Sozialen Dialogs erlassen oder gemeinsam Projekte durchgeführt, die von der EU mit Geld gefördert werden. Und letztendlich geht es für ver.di ums Netzwerken und den Kontakt mit anderen Gewerkschafter*innen europaweit.

Wo verhandelt ver.di mit?

Beim sektoralen Sozialen Dialog verhandelt ver.di über die Europäische Transportarbeiterföderation, über den Europäischen Gewerkschaftsverband für Dienstleistungsgewerkschaften Union Network International und den europäischen Gewerkschaftsverband für den öffentlichen Dienst direkt mit. Dabei geht es um anstehende Herausforderungen in den Branchen, um Richtlinienvorschläge oder autonome Abkommen. Beim branchenübergreifenden Sozialen Dialog verhandelt der Europäische Gewerkschaftsbund auf Gewerkschaftsseite; ver.di ist hierbei über den Deutschen Gewerkschaftsbund beteiligt.

Seit wann gibt es den Sozialen Dialog?

1986 wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte die Basis für die Entwicklung des Sozialen Dialogs auf EU-Ebene geschaffen. 1991 erhielten die Sozialpartner eine verfassungsmäßig anerkannte Rolle im gemeinschaftlichen Gesetzgebungsprozess zuerkannt. Der Vertrag von Amsterdam übernahm 1997 das Abkommen über die Sozialpolitik, womit ein einheitlicher Rahmen für den Sozialen Dialog in der EU eingerichtet wurde. In der Finanz- und Wirtschaftskrise (2008) geriet der Soziale Dialog unter anderem durch abnehmende Tarifbindung und staatliche Eingriffe in die Lohnpolitik unter Druck. Im Vertrag von Lissabon (2009) wurde die Rolle der Sozialpartner erneut hervorgehoben und in der Erklärung von Porto (2021) noch einmal ihre zentrale Rolle betont. malüh