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Mit Pfannen und Töpfen: Der Protest in Großbritannien gegen steigende Preise wird lauterFoto: John Harris/REA/laif

Vor dem Tod der britischen Queen Elizabeth II. am 8. September gab es in Großbritannien eigentlich nur zwei miteinander verknüpfte Gesprächsthemen: Die eskalierende Preisspirale bei den Lebenshaltungskosten, und die sogenannten "Sommerstreiks". Letztere waren die Antwort wachsender Teile der arbeitenden Bevölkerung auf ersteres. Die Inflationsrate war im Sommer auf rund 9 Prozent angestiegen. Für den Januar kommenden Jahres wird erwartet, dass die Preissteigerungen ein zweistelliges Niveau erreicht haben werden.

Das Gefühl, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss, war schon im Jahr 2021 deutlich zu spüren. Damals steckte Großbritannien noch mitten in der Covid-19-Pandemie. 100.000 Tote waren zu beklagen. In zahlreichen Branchen – dem Gesundheitswesen, der Gastronomie und der Logistik – machten Geschichten über einen zunehmenden Personalmangel die Runde. Vor dem Hafen von Felixstowe stauten sich die Containerschiffe, weil der Hafen mit dem Löschen der Frachtgüter nicht hinterherkam. In dieser Situation gab es die ersten bemerkenswerten Streiks: In einer ganzen Reihe von Logistik-Unternehmen konnte die Industriegewerkschaft UNITE teilweise zweistellige Lohnerhöhungen erkämpfen. Dies war der erste kleine Vorgeschmack auf das, was diesen Sommer passieren sollte.

Das nackte Überleben

Denn ging es bei den Streiks im Jahr 2021 noch darum, Lohneinbußen der vergangenen Jahre wieder wettzumachen, geht es nun aufgrund der massiven Preisanstiege bei Strom und Gas für viele Leute um das nackte Überleben. Zweistellige Lohnerhöhungen sind aus der Sicht arbeitender Menschen zwingend nötig, einfach um den bisherigen Lebensstandard aufrecht erhalten zu können. Gelingt dies nicht, droht eine soziale Katastrophe.

Zwar hat die neue Premierministerin Elizabeth Truss angekündigt, die Strom- und Gaspreise bei 2.500 Pfund pro Jahr einzufrieren. Doch diese Summe beinhaltet immer noch eine Verdoppelung der Preise im Vergleich zum März dieses Jahres. Würden die Preise wie bislang unkontrolliert weiter ansteigen, könnte dies bis zum Januar 2023 drei Viertel aller britischen Haushalte in die Energiearmut stürzen. Davon geht eine Anfang August veröffentlichte Studie der University of York aus. 53 Millionen Menschen würde das akut betreffen, darunter auch große Teile der Mittelschichten. Vor allem letzteres dürfte die erklärte Thatcheristin Truss dazu bewegt haben, hier gegen ihren eigentlichen erklärten Willen in den Markt einzugreifen.

Eine andere Motivation dürfte gewesen sein, die sich zusammenbrauende soziale Revolte im Land mindestens abzumildern. Längst nicht nur die Gewerkschaften wurden davon erfasst. Bis Anfang September hatte die Gruppe "Don't Pay UK" 200.000 Absichtserklärungen von Menschen gesammelt, die ab Anfang Oktober die Zahlung ihrer Energiekostenabrechnungen verweigern wollen. Bei dieser Graswurzelbewegung ist man fest davon überzeugt, Millionen Menschen organisieren zu können, um bei der Aktion mitzumachen.

15 Pfund pro Stunde

Auch andernorts war die zunehmend wütende Stimmung spürbar: Tausende Menschen nahmen in den vergangenen Wochen an Saalkundgebungen der aus gewerkschaftsnahen Kreisen organisierten Kampagne "Enough is Enough" (Genug ist genug) teil. Diese Kampagne, offiziell unterstützt von der Kommunikationsgewerkschaft CWU und der Mieter*innengewerkschaft Acorn, fordert unter anderem einen gesetzlichen Mindestlohn von 15 Pfund pro Stunde, eine Reichensteuer sowie ein staatliches Wohnungsbauprogramm. Dafür will die Kampagne auch bald öffentliche Protestaktionen organisieren.

Am sichtbarsten waren über den Sommer hinweg jedoch die Gewerkschaften, allen voran die Kolleg*innen bei der Post und die Eisenbahnarbeiter*innen. Letztere führen derzeit einen koordinierten, alle 14 privatisierten britischen Eisenbahnunternehmen umfassenden Arbeitskampf für höhere Löhne und gegen Arbeitsplatzabbau. Bei der Post geht es darum, mindestens eine Lohnerhöhung zu erkämpfen, mit der die Teuerungen ausgeglichen werden können. Beide Gewerkschaften zusammen mobilisierten im August hunderttausende Beschäftigte.

Begleitet wurden deren Streiks von dutzenden lokalen und regionalen Arbeitskämpfen im privaten und öffentlichen Sektor. Noch im September werden weitere Berufsgruppen hinzustoßen. An zahlreichen Universitäten will das Lehrpersonal in den Ausstand treten. Ab dem 27. September werden die Dockarbeiter*innen am Hafen Felixstowe ihre zweite Streikwelle beginnen. Die Betreibergesellschaft bietet zwar 7 Prozent mehr Lohn an. In Zeiten galoppierender Inflation ist das den Beschäftigten aber zu wenig.