Die Inflationsrate steigt Monat für Monat, zuletzt im Oktober auf 10,4 Prozent. Für dieses und nächstes Jahr wird mit einer Preissteigerung von rund 8 Prozent gerechnet. Damit werden die bislang höchsten Inflationsraten der Jahre 1951 mit 7,6 Prozent und 1973 mit 7,1 Prozent noch einmal getoppt. Dies hätte noch vor kurzer Zeit niemand für möglich gehalten. Damit steht auch die Tarifpolitik vor einer geradezu historischen Aufgabe. Ihr Ziel ist es, für die Beschäftigten nicht nur einen Ausgleich der Preissteigerung zu erreichen, sondern sie unter anderem auch an den Produktivitätssteigerungen zu beteiligen. Sonst würden nur die Gewinne steigen. In der Vergangenheit ist das auch gut gelungen. Die Gewerkschaften konnten überwiegend Abschlüsse erzielen, die deutlich über dem reinen Inflationsausgleich lagen. Bislang sind wir also mit dem deutschen Tarifverhandlungssystem und der Tarifautonomie gut gefahren.

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Norbert Reuter leitet die tarifpolitische Grundsatzabteilung bei ver.diFoto: Kay Herschelmann

Könnte das zukünftig angesichts der hohen Inflation anders sein? Wäre eine sogenannte staatliche Lohnindexierung besser, wie es sie in Belgien, Luxemburg, Malta und Zypern gibt? Dort steigen die Löhne nach gewissen Regeln automatisch mit der Preisentwicklung. Hört sich erstmal gut an. Allerdings liegen dem vermeintlichen Automatismus teils komplizierte Verfahren zugrunde. Und es gibt politische Eingriffsmöglichkeiten. In Belgien etwa werden die Preise für Treibstoff, Alkohol und Tabak nicht berücksichtigt. Gerade Treibstoff ist aber teurer geworden. Zeitweise hatte die Regierung sogar eine Aussetzung des Index durchgesetzt. Erhöhungen der Löhne und Gehälter dürfen zudem nicht über den Lohnsteigerungen der Nachbarländer liegen. Auch Gewerkschaften hatten in der Vergangenheit den Vereinbarungsentwurf der Regierung abgelehnt, da aus ihrer Sicht mehr zu verteilen gewesen wäre.

Die Stärkung der Tarifbindung ist die eigentliche Aufgabe.

In der Praxis sind Lohnindexierungen daher immer auch politisch. Würden sie in Deutschland umgesetzt, würde das bewährte System autonomer Tarifverhandlungen zwischen den Tarifparteien verlassen und Handlungsspielräume kleiner, die in der Vergangenheit gut genutzt wurden. Denn in Tarifrunden werden nicht nur Lohnerhöhungen verhandelt, sondern ganze Pakete geschnürt, die auch Arbeitszeitverkürzung, zusätzliche Urlaubstage, Gesundheitsschutz, Beiträge der Arbeitgeber zur Betriebsrente und mehr beinhalten. Die Erfahrungen nach der Durchsetzung der "Agenda 2010" und dem damit verbundenen Druck auf die Löhne haben gezeigt, dass sich die Verteilung in den Nullerjahren zunächst für die Arbeitnehmer*innen verschlechterte, die Gewinne hingegen stiegen. Danach konnte die Verteilung jedoch wieder auf Vor-Agenda-Zeiten korrigiert werden. Ab 2012 wurden Jahr für Jahr im Durchschnitt Abschlüsse erzielt, die deutlich über der Inflationsrate lagen. Mit einer gesetzlichen Lohnindexierung wäre das kaum möglich gewesen.

Zudem: Eine Verknüpfung von Löhnen und Inflation lässt sich auch in Tarifverträgen verankern. Dies wurde neben anderen Regelungen in aktuellen Tarifverträgen bereits umgesetzt. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände kennen als Tarifpartner die besonderen Gegebenheiten der verschiedenen Branchen am besten und können passgenaue Lösungen finden – die zudem viel mehr als nur das reine Entgelt regeln. Auch zeigen aktuelle Tarifrunden, dass es mit engagierten Gewerkschaftsmitgliedern, aktiven Beschäftigten und guten Strategien sehr wohl gelingen kann, auch in Zeiten hoher Inflation Lohnsteigerungen durchzusetzen, die die Realeinkommen sichern – zuletzt etwa in der Leiharbeit, in der Geld- und Wertbranche und bei den Seehäfen, wo Abschlüsse zwischen 11 und 19 Prozent durchgesetzt werden konnten.

Klar, hohe Abschlüsse gelingen nicht immer. Dann bleiben sie aber wie in der Vergangenheit auf der Tagesordnung kommender Tarifrunden – bis der Rückstand aufgeholt ist. Das eigentliche Problem ist damit nicht die Höhe der Tarifabschlüsse, sondern der Umstand, dass aktuell nur für rund die Hälfte der Beschäftigten noch ein Tarifvertrag gilt. Deshalb ist die Stärkung der Tarifbindung die eigentliche Aufgabe. Da sind Gewerkschaften und Politik dran und erste Erfolge werden sichtbar. Klar ist aber auch: Die derzeitige, durch multiple Krisen gekennzeichnete Lage lässt sich nicht allein mit der Tarifpolitik bewältigen. Auch die Bundesregierung ist gefordert, durch ausreichende Entlastungspakete untere und mittlere Einkommensschichten zu entlasten und zur Finanzierung die Reichen zur Kasse zu bitten. So lassen sich die Folgen der hohen Inflation, die gestiegenen Preise, meistern. Es geht nur solidarisch und gemeinsam.