Sven Giegold ist das Gesicht von attac, dem globalisierungskritischen Netzwerk, dem auch ver.di angehört. Angesichts des G8-Gipfels Anfang Juni in Heiligendamm träumt er von Massenprotesten und Einigkeit der Linken

VON INKEN PETERSEN

"Die Arbeitnehmer haben in den letzten Jahren stark eingebüßt, wir erleben in vielen Unternehmen eine Form von Räuberei"

Hans-Dietrich Genscher, 80 Jahre alt, hat gerade ein flammendes Plädoyer gegen den Krieg und für Europa gehalten: "Was oft nicht gewürdigt wird", ruft der einstige Außenminister den Zuschauern im Berliner Fernsehstudio zu, aus dem die Talkshow über die Rolle der EU in einer globalisierten Welt live übertragen wird, "wir haben 50 Jahre Frieden! Wir sind die stabilste Region der Welt!"

Das Alter, die historische Erfahrung, die Wortgewalt - wer will dem etwas entgegensetzen. Da nimmt sich der junge Studiogast neben Genscher das Wort. "Wir bei attac", sagt er, "betrachten diese EU als Fehlkonstruktion." Fehlkonstruktion. Er sagt das wirklich so, ernst, kühl, überlegt. "Der Markt ist offen", fährt er fort, "aber umgekehrt gelten soziale und steuerliche Regeln nicht europaweit, und soziale Absicherungen wurden abgesenkt unter dem Druck der Wettbewerbe."

Wie frech darf einer sein?

Ungläubige Blicke, verhaltener Applaus. Selbst wenn er Recht hat - wie frech darf einer sein? Wer ist dieser Mann im legeren Sakko überhaupt, der aussieht, als könne er Genschers Enkel sein? Sven Giegold, 37, hat vor sieben Jahren das globalisierungskritische Netzwerk attac Deutschland mitgegründet. Ein gesellschaftliches Bündnis, das von ver.di über den BUND und Pax Christi bis zu kapitalismuskritischen Gruppen reicht und mittlerweile 90000 Mitglieder in 50 Ländern hat.

Sven Giegold ist so etwas wie "das Gesicht" der globalisierungskritischen Bewegung hierzulande. Er ist Sprecher der attac-Arbeitsgruppe Steuerflucht und Steuerpolitik und Mitglied des Koordinierungskreises, der attac-Chefetage, pardon, des Gremiums, das das Netzwerk repräsentieren darf. Es gibt bei attac keine Hierarchien, formal.

Und so sind es die redegewandten, durchsetzungsstarken, telegenen Männer, die die Organisation führen. Von 16 Personen im Koordinierungskreis sind zwei Frauen. "Machtkämpfe", beteuert Sven Giegold, "liegen mir nicht." Was diesbezüglich in Parteien ablaufe, widere ihn an.

Er hat eine Popularität, die nerven kann - Attacler etwa, die nörgeln, er nutze die Plattform, wann immer möglich seine Weltsicht zu verbreiten. Sven Giegold nimmt derlei nicht persönlich. "Wenn es Kritik gibt", sagt er, "dann ist sie häufig verbunden mit politischen Fragen und nicht damit, dass eine Person besonders häufig nachgefragt würde."

Nur: Wann immer die Debatte um Sozialpolitik oder Ökologie der Industrienationen Wellen schlägt, wann immer es um Steuerflucht oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der globalisierten Welt geht, ist Giegold für die Medien ein gefragter Gesprächspartner. Vor allem jetzt, wenige Wochen vor dem Weltwirtschaftsgipfel der sieben mächtigsten Industrienationen und Russland (G8) in Heiligendamm. Giegold denkt schneller als andere, er formuliert glasklar, provoziert. Und er hat Ahnung, wovon er spricht: Der Ökonom hat in Lüneburg, Bremen, Birmingham, Paris studiert, sein Promotionsthema ist die politische Regulierung von Steueroasen.

"Es ist illegitim, globales Regieren nur unter den acht reichsten Ländern auszuhandeln", lautet eines seiner zentralen Argumente. "Dafür ist die UNO da, aber mit ihren Mitgliedern zu verhandeln ist natürlich ungleich lästiger", sagt er spitz. Die Haare an den Schläfen werden schon grau, aber neben den Herren, die die öffentlichen Debatten bestimmen, nimmt er sich aus wie ein blutjunger Exot.

Einer, der zuweilen rastlos wirkt. Bald jeden dritten Abend, erzählt er nach dem Treffen mit Genscher in einem Café, halte er derzeit Vorträge, europaweit. Der gepackte Rucksack steht neben ihm, Giegold trägt jetzt Zivil, Jeans und Pulli. Es widerstrebt ihm, dieses Leben in Zug und Flugzeug - Sven Giegold, der sich selbst als "Bewegungsarbeiter" bezeichnet, wohnt mit 17 Menschen in einer Hofgemeinschaft auf dem platten Land in Niedersachsen. Ohne Führerschein und mit einer Art Grundgehalt von etwa 1000 Euro, das er von einer Stiftung für sein Engagement bei attac und im Ökozentrum in Verden an der Aller bekommt. Und von den Honoraren und den Aufwandsentschädigungen, die er für seine Reden und Auftritte erhält und die er in der Regel nicht an attac abführen muss. Man muss sich nicht sorgen, dass Sven Giegold verhungert.

Sein Lebensstandard mag nicht der sein, den andere anstreben; seine wissenschaftliche und politische Unabhängigkeit sind es ihm wert. Nur: Das Leben in der Oase bringt keine gesellschaftliche Veränderung. Sven Giegold aber hat Sendungsbewusstsein.

Suche nach Alternativen

An attac, erzählt er, reize ihn vor allem der internationale Blick und die Breite des Bündnisses. Allerdings: "Wo man Politik macht, ist für mich keine Glaubensfrage", sagt er. Wenn die Ziele stimmten, könne er sich auch vorstellen, sich in einer Nichtregierungsorganisation zu engagieren, eventuell sogar in einer Partei. Sven Giegold ist weit entfernt von jenen Menschen, die sich für linke Bewegungen aufreiben. Im Moment aber liegt attac auf seiner Zielgeraden.

Selten habe es eine solche Einmütigkeit zwischen den vielen linken Gruppen gegeben wie in diesem Jahr. "Die Aufmerksamkeit hat sich verschoben", sagt Sven Giegold, "von der Globalisierung, die den Ärmsten die Entwicklungschancen nimmt, hin zu der Globalisierung, die unseren Sozialstaat zermahlt." Der Gipfel werde deshalb viele auf die Straße treiben, besonders Gewerkschaftsmitglieder: "Die Arbeitnehmer haben in den letzten Jahren stark eingebüßt, wir erleben in vielen Unternehmen eine Form von Räuberei", sagt Giegold. "Was uns fehlt", klagt er, "ist jedoch die volle Unterstützung durch die Gewerkschaftsspitzen."

Dass es realpolitische Gründe für diese Zurückhaltung gibt, dass Totalblockade selten etwas gebracht hat - er wischt es mit einer Handbewegung fort: "Teile der Gewerkschaftsführungen fühlen sich immer noch als Teil der Sozialpartnerschaft", sagt Giegold. "Sie haben nicht verstanden, dass das vorbei ist." Wenn er erstmal austeilt, ist für Zwischentöne wenig Platz.

Auch nicht für attac. "Wir haben es geschafft, den Neoliberalismus zum Schimpfwort zu machen, wir haben die Macht, Schädliches zu blockieren." Nur: "Die Frage, wie man Alternativen gegen die globalisierten Gegner durchsetzt, haben wir nicht beantwortet."

Sven Giegold

wurde am 17. November 1969 in Las Palmas de Gran Canaria geboren, er wuchs in Hannover auf und lebt heute in Stedorf/Niedersachsen. Seine politische Initialzündung war 1983 eine Projektwoche an seiner Schule zum Thema Waldsterben - Giegold gründete daraufhin eine Umwelt-AG, später engagierte er sich beim BUND. Seine Mutter war Fotolaborantin, sein Vater Maschinenschlosser. "Ich war nie der Mittelschichtsöko", sagt Giegold über sich, "die soziale Frage war für mich immer da, deswegen bin ich zum Beispiel auch nicht bei den Grünen."