Ausgabe 01/2008-02
Jeder Fall ein Kind
Von Silke Leuckfeld |Jeder Fall ein Kind
In Dortmund haben die Sozialarbeiter zum Schutz von Kindern mehr Stellen erkämpft
Nicht nur harte "Problemfälle" kommen zum Jugendhilfedienst in Dortmund
Ständig am Limit arbeiten, jede Akte ein Fall, jeder Fall ein Kind - die Situation für die Sozialarbeiter/innen im Jugendhilfedienst in Dortmund war über die Jahre unerträglich geworden. "Ich habe noch nie so viele Kollegen am Rand eines Burn-Outs erlebt", berichtet Doris Punge, Leiterin des Jugendhilfedienstes Dortmund-Scharnhorst.
ver.di und der Personalrat forderten gemeinsam mehr Personal und die umgehende Besetzung von freien Stellen. Monatelang passierte nichts. Um ihre Situation deutlich zu machen, griffen die Beschäftigten schließlich zu einem drastischen Mittel: Gemeinsam mit ver.di demonstrierten sie vor einer Sitzung des Kinder- und Jugendausschusses der Stadt. Der Zeitpunkt war günstig, die Medien berichteten gerade bundesweit über vernachlässigte und getötete Kinder. Der öffentliche Druck - auch auf die Politik - war auch in Dortmund enorm, obwohl dort kein extremer Fall von Misshandlung bekannt geworden war.
Die Demo half
Die Politiker lenkten ein und gaben ein Gutachten über die Situation bei der Gemeindeprüfungsanstalt Nordrhein-Westfalen in Auftrag. Das Ergebnis war erschreckend: Die Dortmunder Jugendhilfedienste brauchten zusätzlich sechseinhalb Stellen für hochqualifizierte Leitungskräfte, 8,59 Stellen für die Prävention und außerdem 5,67 Stellen für Verwaltungsfachkräfte im Bereich Vormund- und Pflegschaften. Insgesamt 20 und eine halbe Stelle. "Bisher hatten die Jugendhilfedienste rund 92 Stellen, nach dem Gutachten liegt der Bedarf tatsächlich bei knapp 113 Stellen. Damit fehlten mehr als 20 Prozent. Das führte zur Überlastung der Kollegen, die trotzdem immer noch gut gearbeitet haben", sagt Ulrich Piechota, Mitglied im Personalrat der Stadt Dortmund und Vorsitzender des ver.di-Fachbereichs Gemeinden im Bezirk. Aber in Dortmund fehlten nicht nur Leute - zusätzlich war das Team überaltert, der Krankenstand stieg, und frei werdende Stellen wurden durch die interne Bürokratie nur mit monatelanger Verzögerung wieder besetzt.
"Auch wir hatten eine freie Stelle und bekamen nach der Demonstration durch das Gutachten endlich noch eine dazu", sagt Doris Punge. Seitdem hat sich die Situation leicht entspannt: 85 bis 110 Akten bearbeitet jeder Sozialarbeiter in ihrem Bereich ständig, zwölf Sozialarbeiter und sechs Verwaltungsangestellte arbeiten in Dortmund-Scharnhorst.
Der Bezirk ist bunt gemischt: von bürgerlichen Eigenheimsiedlungen bis zum Neubaugebiet Scharnhorst-Ost mit einer schwierigen Sozialstruktur. "Dort leben viele Multiproblemfamilien", betont Doris Punge. Darunter versteht sie Familien, in denen die Eltern, manchmal aber auch schon die Kinder süchtig sind und psychische Probleme haben. Einige Familien sind in der zweiten oder dritten Generation auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Die Sozialarbeiter wissen zu Beginn ihres Arbeitstages nie, was sie erwartet. Kommt ein Anruf von einem Nachbarn, der vermutet, dass die Kinder in der Wohnung nebenan misshandelt werden, oder der Hinweis aus einer Schule, dass ein Kind sichtbare Verletzungen hat, die von Schlägen stammen können? In besonders heiklen Fällen fahren die Sozialarbeiter zu zweit zu den Familien. Die Jugendämter sind rund um die Uhr erreichbar, ab Dienstschluss werden die Anrufe an eine zentrale Notrufnummer weitergeleitet, dann übernimmt ein Notdienst diese Fälle.
Sozialarbeiter am Pranger
In der öffentlichen Meinung stehen die Beschäftigten der Jugendämter schnell am Pranger, wenn einem Kind etwas zustößt. Das ist erst recht so, wenn ein Kind ums Leben kommt.
Doch die juristische Lage ist äußerst schwierig. "Das Elternrecht ist das starke Recht in Deutschland", erklärt Doris Punge. Um ein Kind aus der Familie nehmen zu können, muss "Kindeswohlgefährdung" bestehen - ein rechtlicher Begriff, der eine so schlimme Vernachlässigung voraussetzt, dass lang anhaltende Schäden befürchtet werden. Je jünger das Kind ist, umso größer die Gefahr. "Wir müssen immer erst prüfen, ob dem Kind etwas passieren kann", sagt Doris Punge. Der gesunde Menschenverstand steht dann oft im Gegensatz zum Gesetz. "Die Kollegen müssen die psychische Verfassung der Eltern einschätzen", erläutert Ulrich Piechota. "Natürlich wissen sie es vorher, wenn eine Drogenkranke ein Kind nicht angemessen versorgen kann." Signalisieren die Eltern aber, dass sie mit dem Jugendhilfedienst zusammenarbeiten und Hilfsangebote annehmen wollen, wird es schwierig, ihnen das Kind wegzunehmen. Dann muss erst etwas passieren, bevor die Sozialarbeiter eingreifen können - eine schwere Situation, für viele kaum zu bewältigen. "Das setzt eine hohe Professionalität der Sozialarbeiter voraus, die immer sachlich bleiben müssen", betont Ulrich Piechota.
Der Jugendhilfedienst kann ein Kind bei konkreten Vorfällen sofort aus der Familie holen, zum Beispiel wenn Sozialarbeiter das Kind allein gelassen in einer vermüllten Wohnung finden. Legen die Eltern aber dagegen Beschwerde beim Familiengericht ein, entscheiden die Richter. Folgt das Gericht dann nicht der Einschätzung der Sozialarbeiter, kommt das Kind zurück in die Familie und die Sozialarbeiter müssen weiter mit den Eltern arbeiten.
Rund zehn Fälle von Kindeswohlgefährdung bearbeitet der Jugendhilfedienst Dortmund-Scharnhorst monatlich. Für Ulrich Piechota sind die zusätzlichen Stellen in Dortmund der richtige Weg: "Je mehr Personal hier tätig ist, umso mehr kann sich jeder um den einzelnen Fall kümmern. Allerdings sind immer noch nicht alle Stellen besetzt, die Verwaltung ist zäh."