Barbara Jentzsch ist freie Journalistin und lebt in den USA

Die Mobilisierungskräfte der us-amerikanischen Gewerkschaften zu Wahlkampfzeiten sind erstaunlich, vor allem vor dem Hintergrund, dass nur noch zwölf Prozent der amerikanischen Arbeiter und Angestellten heute gewerkschaftlich organisiert sind: Hatte der Dachverband AFL-CIO bei den Zwischenwahlen vor zwei Jahren noch 40 Millionen Dollar bereitgestellt - und damit maßgeblich zum Erdrutschsieg der Demokraten beigetragen -, so erhöhte der Verband den Einsatz jetzt auf historische 53,4 Millionen. Der Gedanke liegt nahe, dass diese Gelder Barack Obama und Hillary Clinton, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten, zugute kommen sollen. Langfristig gesehen stimmt das auch, doch im Moment geht es der Gewerkschaftsbewegung nur um eins: die Wahl des Republikaners John McCain, auch Bush III genannt, zu verhindern.

Während Clinton und Obama im schier endlosen, für die demokratische Partei potenziell selbstmörderischen Clinch liegen und den Rivalen McCain dabei sträflich vernachlässigen, hat der AFL-CIO den wirklichen Gegner erkannt: Seit Mitte März läuft multi-medial und vor Ort in 23 für die Präsidentschaftswahlen im Herbst kritischen Bundesstaaten eine Anti-McCain-Kampagne, die den anderen, weithin unbekannten Senator präsentiert. Auf rund 500000 Flugblättern wird der 71-Jährige, landesweit verehrte Vietnam-Kriegsheld als ungebrochener Gewerkschaftsfeind entlarvt, als ein Politiker, der gegen die Erhöhung des Mindestlohns und gegen das Recht der Gewerkschaften auf Organisierung gestimmt hat, der eine nationale Krankenversicherung ablehnt, der Bushs Steuergeschenke an die Reichen und unfaire Handelsverträge wie Nafta, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen, unterstützt hat. Die weiter um sich greifende Krise am amerikanischen Immobilienmarkt, die bereits zur Zwangsversteigerung von mehr als einer Million Häusern geführt hat, schiebt McCain den "verantwortungslosen Hauseigentümern und Kreditaufnehmern" in die Schuhe.

McCain hat unlängst zugegeben, dass er von Wirtschaft wenig versteht. Wo immer der Republikaner dieser Tage auftaucht, erwarten ihn nun Gewerkschaftsproteste und Aktivisten, die ihn drängen, über ihre Probleme zu sprechen: die rasant steigenden Lebensmittel- und Benzinpreise, die unsichere Zukunft vor allem in der Baubranche und im verarbeitenden Gewerbe, Massenentlassungen, die Auslagerung von Arbeitsplätzen oder die akute Kreditkarten-Krise. Wenn er sich überhaupt die Mühe macht, solche Fragen zu beantworten, bleibt McCain so unverbindlich wie möglich.

Nach jüngsten Umfragen sehen 81 Prozent der Amerikaner ihr Land "ernsthaft" auf dem falschen Kurs. McCain würde den von Bush gesetzten Kurs halten, da sind sich die Gewerkschaften einig. Alles andere als einig sind sie sich bei ihrer Unterstützung für einen der demokratische Kandidaten. Der Dachverband will sich erst entscheiden, wenn die Nominierung feststeht. Den Einzelgewerkschaften ist freigestellt, ob sie Obama oder Clinton unterstützen. Der exakte Stand der Dinge ist undurchsichtig, denn während die Mehrheit der 56 zum AFL-CIO gehörenden Gewerkschaften zu Hillary Clinton tendiert, unterstützt die "Change to Win Coalition", die sich 2005 vom Dachverband abspaltete, Barack Obama. Damit nicht genug, sind die einzelnen Gewerkschaften auch in sich gespalten.

Wie komplex und kompliziert die Gewerkschaftsszene ist, lässt sich aktuell im Bundesstaat Pennsylvania beobachten. Am 22. April finden hier die Vorwahlen statt. Wochenlang hielt Hillary Clinton einen zweistelligen Vorsprung. Pennsylvanias Bevölkerung ist auf sie zugeschnitten: Es überwiegen die Arbeiter, Frauen, Senioren und Katholiken, Bevölkerungsgruppen, die sich als Hillarys Stammwähler herausgestellt haben. Doch ihr Vorsprung ist rapide geschmolzen. Weil die Erwartungen so hoch hängen, würde ein knapper Sieg jetzt schon eine Niederlage bedeuten. Pennsylvania kann jedoch für beide Demokraten zum Desaster werden. Denn hier finden sich jede Menge so genannter "Reagan Democrats", weiße Arbeiterfamilien, die 1980 für Reagan stimmten, bei den Republikanern geblieben sind und heute vermutlich John McCain beiden demokratischen Kandidaten vorziehen.

Auf diese landesweit nicht zu unterschätzende Wählerschicht richtet sich die Anti-McCain-Aufklärungskampagne des AFL-CIO in erster Linie. Doch die Arbeiter unter den Wählern davor zu bewahren, gegen ihr wirtschaftliches Eigeninteresse zu stimmen, war und ist in den USA immer ein schwieriges Unterfangen. Kommt jemand daher, der an ihren Patriotismus und ihre "values" - soziale, religiöse und kulturelle Wertvorstellungen - appelliert, dann sind die Sorgen um einen sicheren Arbeitsplatz, gewerkschaftliche Organisierung, Überstundenbezahlung, Krankenversicherung oder die Sicherung der Altersversorgung nur noch zweitrangig.

"Die Arbeiter davor zu bewahren, gegen ihr wirtschaftliches Eigeninteresse zu stimmen, bleibt in den USA schwierig."