Der Europäische Gerichtshof hebelt Tariftreuegesetz in Niedersachsen aus

Als der Europäische Gerichtshof (EuGH) Anfang April sein Urteil verkündete, waren viele Gewerkschafter schockiert. Die Richter hatten entschieden, dass das Land Niedersachsen nicht mehr von seinen Auftragnehmern verlangen darf, dass sie sich tariftreu verhalten. (Az C 346/06)

Damit wird nicht nur Niedersachsen sein Vergaberecht überarbeiten müssen. Auch sieben weitere Bundesländer können nicht mehr weiter so verfahren wie bisher. "Für den Europäischen Gerichtshof ist der freie Warenverkehr von Gütern und Dienstleistungen das höchste Gut. Der Schutz von Arbeitnehmern ist für die Richter zweitrangig", fasst der für Internationales zuständige ver.di-Sekretär Hubert Schmalz die Bedeutung des Urteils zusammen.

Konkret ging es in dem Prozess um den Rohbau des Göttinger Gefängnisses. Der Bauträger hatte unterschrieben, dass er Tariflöhne zahlt. Laut Gesetz gilt eine solche Garantie auch für die Firmen, denen der Hauptauftragnehmer Aufgaben überträgt. Tatsächlich kamen bei der Errichtung der Haftanstalt dann aber auch 53 polnische Arbeiter zum Einsatz, die nur knapp die Hälfte verdienten. Als das aufflog, verlangte das Land 85000 Euro Vertragsstrafe - die der Bauunternehmer nicht zahlen wollte. Die Richter am Oberlandesgericht Celle sahen grundsätzlichen Klärungsbedarf und verwiesen den Fall an den EuGH in Luxemburg.

Nachdem der europäische Generalanwalt vor einigen Monaten empfohlen hatte, die Angelegenheit zu Gunsten des Landes Niedersachsen zu entscheiden, kam das Urteil jetzt für alle überraschend. Schließlich hatte auch das Bundesverfassungsgericht erst vor eineinhalb Jahren bei einer ähnlichen Frage entgegengesetzt geurteilt. Damals ging es um die Tariftreueklausel in Berlin. Sie schreibt vor, dass bei öffentlichen Aufträgen mindestens 7,50 Euro Stundenlohn gezahlt werden müssen. Ein Bewerber wollte sich auf solche Bedingungen nicht festlegen lassen und klagte. Doch die höchsten deutschen Richter wägten verschiedene Grundrechte gegeneinander ab und kamen zu dem Schluss, dass der Schutz hoher sozialer Standards Vorrang habe vor der unternehmerischen Freiheit.

Eine Revision gegen das EuGH-Urteil ist nicht möglich. In der Konsequenz bedeutet es, dass öffentliche Auftraggeber künftig nur noch dort Mindestlöhne verlangen dürfen, wo ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt worden ist oder ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn gilt. Doch eine solche Anforderung an die Auftragnehmer zu stellen, ist banal: Jedes andere Verhalten wäre ohnehin illegal.

Damit soziale Kriterien nicht völlig unter die Räder kommen, fordert ver.di nicht nur erneut einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen. Auch das Europaparlament ist zum Handeln aufgefordert. Schließlich schreibt der EU-Vertrag von Lissabon fest: Wirtschaft, Soziales und Umwelt sind gleichberechtigte Säulen der Europäischen Gemeinschaft. anette jensen