JÖRG WIEDEMUTH ist Bereichsleiter der Tarifpolitischen Grundsatzabteilung in der ver.di-Bundesverwaltung

ver.di PUBLIK | In Deutschland verdienen Frauen laut einem EU-Bericht 22 Prozent weniger als Männer. Weil sie oft nur Teilzeitjobs haben, aber auch, weil sie für die gleiche Arbeit nicht selten schlechter bezahlt werden als Männer. Die Gewerkschaften setzen sich seit Jahren für Entgeltgleichheit ein, aber offenbar nicht durch?

JÖRG WIEDEMUTH | Eine grundlegende Veränderung ist nur dann möglich, wenn die Arbeitgeber auch bereit sind, die überwiegend von Frauen ausgeübten Tätigkeiten besser zu bezahlen. In den Tarifverträgen ist es weitgehend gelungen, gleiche Arbeit von Männern und Frauen auch gleich zu bezahlen. Allerdings werden "Frauentätigkeiten" häufig schlechter bewertet als "Männertätigkeiten".

ver.di PUBLIK | Mit dem Arbeitgeberverband im Einzelhandel arbeitet ver.di seit langem an einem neuen Entgeltsystem, in dem etwa der Beruf der Verkäuferin gegenüber dem des Lagerarbeiters aufgewertet werden soll. Das könnte die EU-Zahlen für Deutschland verbessern, aber wird es dieses neue Entgeltsystem auch geben?

WIEDEMUTH | Im Augenblick liegt der Reformprozess auf Eis, da der lang anhaltende Tarifkonflikt im Einzelhandel eine Fortsetzung der Verhandlungen nicht erlaubt. Ob sich eine Aufwertung des Berufes der Verkäuferin in der Statistik merkbar niederschlägt, ist zurzeit nicht zu beantworten. Denn auf der anderen Seite wollen die Arbeitgeber die Tätigkeit der Kassiererin herabstufen und schlechter bezahlen. Diese Tätigkeit wird ebenfalls überwiegend von Frauen ausgeübt.

ver.di PUBLIK | Was bedeutet das?

WIEDEMUTH | Die Lohndiskriminierung ist subtiler geworden. Hinzu kommt: In den Dienstleistungsbereichen waren die Gewerkschaften in der Vergangenheit nicht so stark wie in der Industrie. Daher besteht ein deutliches Gefälle. Die Situation beginnt sich aber zu drehen, wie die Tarifrunden etwa in den Kitas und Krankenhäusern zeigen. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde ebenfalls helfen, die Lohndiskriminierung weiter abzubauen.

ver.di PUBLIK | Der EU-Sozialkommissar findet es nicht länger hinnehmbar, dass Elternschaft die Erwerbsquote der Frauen dauerhaft senkt, die der Männer aber gar nicht. Hat ver.di Einfluss auf eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf?

WIEDEMUTH | Wir können mit dafür sorgen, dass Arbeitszeiten nicht grenzenlos ausgedehnt und die Wochenenden nicht zur Verfügungsmasse der Unternehmen werden. Wir können zudem ergänzende Freistellungsregelungen vereinbaren. Flexible Arbeitszeitregelungen, bei denen Frauen und Männer mit Kindern ihre Arbeitszeit nach ihren Bedürfnissen gestalten können, wären ebenfalls eine Hilfe. Notwendig sind aber auch ein tatsächlicher Bewusstseinswandel in den Unternehmen und vor allem ein Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen, damit Menschen mit Kindern den Beruf und die Familie besser miteinander vereinbaren können.