Zahl der Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide steigt kontinuierlich - Allein in Berlin wird jeder zweite Bescheid vom Gericht geändert

Stapelweise Klagen im Sozialgericht Berlin

Von Susanne Stracke-Neumann

Einen Rekord hat das Berliner Sozialgericht gemeldet: Mehr als 50000 Klagen gegen Bescheide nach dem Hartz IV-Gesetz sind beim größten Sozialgericht Deutschlands eingegangen, seit die Regelung 2005 in Kraft trat. Vor deutschen Sozialgerichten ist die Klagewelle zur Grundsicherung seit 2005 kontinuierlich gestiegen. In diesem Jahr gibt es bundesweit schon mehr als 75000 Klagen. Experten rechnen sogar mit über 120000 neuen Fällen bis Jahresende.

In Berlin hat der Senat die Notbremse gezogen. Die 85 hauptamtlichen Sozialrichter, die den Aktenberg zusammen mit je zwei ehrenamtlichen Richtern bearbeiten (siehe nebenstehenden Artikel), erhalten 40 neue Kolleginnen und Kollegen. Auch andere Bundesländer haben die Zahl der Sozialrichter aufgestockt oder dies angekündigt.

Zwar sind die Hartz IV-Regeln schon 27 Mal geändert, doch realitätsnäher sind sie dadurch nicht geworden. In Berlin betreffen zwei Drittel aller Sozialgerichtsverfahren Hartz-IV-Fälle. Meist geht es um Wohnungskosten oder die Verrechnung von Vermögen und Einkommen, die von dem Regelsatz abgezogen werden, bis hin zum Krankenhausessen im Wert von wenigen Euro pro Tag.

Kompliziert wie das Steuerrecht

"Die Regelungen von Hartz IV sind so kompliziert wie das Steuerrecht", klagt Michael Kanert, Pressesprecher des Berliner Sozialgerichts. Das Computerprogramm, mit dem die Bescheide berechnet werden, funktioniere bis heute nicht. Die Fehler dürften die Sozialrichter ausbügeln. In Berlin muss jeder zweite Bescheid ganz oder teilweise aufgehoben werden. Kanert: "Wir glauben nicht mehr, dass es sich um Anfangsschwierigkeiten handelt, sondern wir halten es für systemimmanent."

Trotz der komplexen Klagen sollten auf Initiative einiger Bundesländer die Sozial- mit den Verwaltungsgerichten zusammengelegt und die Schranken für Klagen höher gezogen werden. ver.di, der DGB und andere Verbände haben davor dringend gewarnt. Unter anderem hat ver.di gegen dieses Vorhaben Unterschriften gesammelt. Nach einer für die Länder negativen Anhörung waren diese Pläne gestoppt worden.

Doch nun steht das Vorhaben auf der Tagesordnung der Föderalismuskommission II, die bis Mitte Oktober dazu Konkretes vorlegen will. So wollen die Länder eine Gerichtsgebühr einführen, um "aussichtslose Rechtsschutzanliegen" vom Verfahrensweg abzuschrecken. Anke Jonas, ver.di-Sekretärin in Berlin- Brandenburg und ehrenamtlich am Landessozialgericht, mahnt: "In die- sem sensiblen Bereich sind die Streitfälle keine Bagatelle für die Betroffenen."

Verlust von Rechtssicherheit

Jonas befürchtet: "Das Einführen von Gerichtsgebühren würde dazu führen, dass viele Betroffene staatliche Verwaltungsentscheidungen, die sie für falsch halten, gerichtlich nicht überprüfen lassen. Hier wäre der Verlust von Rechtssicherheit programmiert."

Zur Einführung von Gebühren hat das Bundesarbeits- und Sozialministerium ein Gutachten in Auftrag gegeben. Dieses komme zu dem Schluss, "dass die Einführung von Gebühren nicht sachgerecht" sei, teilt die Pressestelle mit und fügt hinzu: "Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales schließt sich dieser Auffassung an."