Kirche im Val Lumnezia, der letzten Bastion des Katholizismus

Wer auf der linken Seite sitzt, kommt den Abgründen bedenklich nahe. Auch die geschlossene Schneedecke, über die das Postauto aufwärts jagt, trägt nicht gerade zur Beruhigung bei. Endlich erreicht es das oberste Dorf des Tals, wo der Busfahrer rückwärts einparkt. Instinktiv dreht man sich mit nach hinten - und erschreckt erneut: Der Blick fällt auf einen vierreihigen Fries mit Totenschädeln. Er ziert das schneeweiße Beinhaus, hinter dem ein farbenfroher Kirchturm in den blauen Himmel ragt.

Wir sind in Vrin, einem der abgelegensten und eigenwilligsten Bergdörfer Graubündens im Val Lumnezia, im Tal des Lichts. Bekannt ist es allenfalls durch seinen Architekten Gion A. Caminada, der mit seinen bäuerlichen Nutzbauten internationale Beachtung fand. Zu den sehenswertesten gehören die beiden, die sich in einer Mulde unterhalb der Kirche verstecken - ein Schafstall und die Dorfmetzgerei. In letzterer vermarkten die ansässigen Bauern ihre hochwertigen Produkte selbst, was ihnen das Überleben im Bergdorf dauerhaft sichert. Doch nicht nur in Vrin, sondern im ganzen Tal ist man auf der Suche nach einer nachhaltigen Entwicklung, für den es auch einen angepassten Tourismus braucht. Entstanden ist ein Netz an Winterwanderwegen, das seinesgleichen sucht. Praktisch alle Orte sind nun auch in der kalten Jahreszeit zu Fuß erreichbar - fernab von Pistenrummel und Straßenlärm.

Eine der spannendsten Routen beginnt am urtümlichen Dorfplatz von Vrin. Man passiert Caminadas neue Totenstube, die sich an die Kirchhofsmauer schmiegt, und einen Stall, aus dem braune Ziegen neugierig herausschauen. Das Bimmeln ihrer Glöckchen folgt dem Wanderer weit in die stille Winterlandschaft hinaus. Dann hört man nur noch das trockene Knirschen des Schnees unter den Sohlen - und das sanfte Rauschen des nahen Glogn. Der Wildbach strömt durch eine Schlucht, auf deren Rückseite steile Felswände drohend aufragen. Wer ihnen mit den Augen nach oben folgt, bekommt die Größenverhältnisse zurecht gerückt: Es ist die wilde Gebirgsnatur, die dieses Ende der Welt beherrscht. Wer hier lebt, hat es gelernt, sich einzufügen.

Geradezu sakral

Weiter unten führt eine rostige Eisenbrücke über den Fluss. Nun windet sich der Weg zum Weiler Surin hinauf - einer weiteren Perle. Erstaunt ist man über die vielen Kirchen und Kapellen, die am Wegrand stehen. Die meisten von ihnen entstanden im Zuge der Gegenreformation. Mit Geldern aus Rom war das Val Lumnezia damals zur letzten Bastion des Katholizismus in einem reformierten Umfeld ausgebaut worden. Entstanden ist eine Sakrallandschaft, wie es in der Schweiz keine zweite gibt. Auf den ersten Blick hat sich in den letzten Jahrhunderten nicht viel verändert. Das Landschaftsbild ist nicht nur von Kirchtürmen geprägt, sondern auch von den verstreuten Stallscheunen der traditionellen Stufenlandwirtschaft.

Wie ernst es den Lumnezern mit dem sanften Tourismus ist, wird dem Wanderer zwischen Vella und Lumbrein deutlich. Fast in jeder Höhenstufe der weiten Südhänge gibt es hier eine Route, wodurch das lästige Zurückgehen auf ein und demselben Weg entfällt. Eine der pinkfarben markierten Strecken führt sogar ins hochalpine Terrain hinauf zur bewirtschafteten Alp Sezner, der abgelegensten Einkehrstation.

Wer es weniger anstrengend mag, bummelt auf der "senda culturale" zum neuen Ausflugslokal in Davos Munts. Um die Abhängigkeit vom Wintersportgeschäft zu verringern, hat man hier einen naturnahen Badesee angelegt, der dem Sommertourismus einen ungeahnten Auftrieb verschafft hat. Unter einer gleißend weißen Schneedecke verschwunden, hält er jetzt in seiner windgeschützten Geländemulde Winterschlaf. Die Sonne strahlt, die Stille ist atemberaubend, das Panorama phantastisch.

Vor 30 Jahren hätte sich das pastorale Weidegebiet beinahe in eine Großbaustelle verwandelt. Ein Investor plante hier eine Satellitenstadt im alpinen Einheitsstil, ging aber Pleite. "Zum Glück", sagt Silvio Capeder, der sich seit 20 Jahren für sanfte Formen der Weiterentwicklung stark macht. Um die Abwanderung zu bremsen, hatte sich der Talpolitiker Rat bei Alpenschutzorganisationen geholt und mit der schwierigen Überzeugungsarbeit begonnen. Die Langsamkeit, mit der der Bewusstseinswandel hier stattfindet, hat dem Lugnez einen echten Standortvorteil verschafft. Im Unterschied zu den meisten Alpengegenden hat der Ausverkauf der Natur hier noch nicht stattgefunden.

"Ein Problem haben wir aber noch", sagt Capeder stirnrunzelnd: "Uns fehlt ein größeres Hotel, das als touristisches Zugpferd dienen könnte." Stimmt! Überall gibt es nur kleinere Gasthäuser und Pensionen mit nur wenigen Betten. Winterwanderern kann das allerdings egal sein. Ohne Mühe finden sie in jedem der behaglichen Dörfer noch ein bescheidenes Plätzchen zum Übernachten. Im Tal des Lichts kann man sie eben noch ungestört genießen - die stille Seite des Winters.

Reisetipps

Info: Lumnezia Turissem, Casti de Mont, CH-7144 Vella, Tel. 0041 / 81 / 931 18 58, Fax -931 34 13, E-Mail info@vallumnezia.ch

Anreise: Mit dem Nachtzug nach Zürich, von dort weiter über Chur nach Ilanz. Von dort fahren etwa im Stundentakt Busse ins Tal.