Ausgabe 10/2010
Wie Betrunkene am Laternenpfahl
Gerd Bosbach ist Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Fachhochschule Koblenz
ver.di PUBLIK | Herr Bosbach, die Deutschen werden immer älter, immer weniger Kinder werden geboren. Viele sprechen inzwischen von einem Krieg der Generationen, der uns bevorsteht.
Gerd Bosbach | Das ist Unsinn. Wenn überhaupt, dann wird es einen Konflikt zwischen Arm und Reich geben. Denn die zukünftigen Generationen erben nicht nur Schulden, sie sind auch Gläubiger. Die reichen Jungen werden die Zinszahlungen bekommen und die armen Jungen werden sie bezahlen müssen.
ver.di PUBLIK | Können Sie als Statistiker sagen, wie Deutschland in 50 Jahren aussieht?
Bosbach | Nein. Ein statistischer Blick auf die Zeit in 50 Jahren ist unmöglich. Das ist Kaffeesatzleserei. Hätte Adenauer 1950 gesagt, lasst uns einen Blick ins Jahr 2000 werfen, dann hätten die Statistiker viele Faktoren übersehen. Wir hätten den Zuzug von Gastarbeitern übersehen. Wir wussten noch nichts von der Anti-Babypille. Wir hätten die Wiedervereinigung nie für möglich gehalten und den sich anschließenden Zuzug von mindestens drei Millionen Aussiedlern. Und nicht zuletzt die Wanderungsströme in der Welt, die Globalisierung. Wie soll man angesichts solcher Entwicklungen 50-Jahres-Prognosen anstellen können, die seriös sind?
ver.di PUBLIK | Aber manch demografische Prognose scheint sich zu realisieren. Immerhin ist schon heute vom Facharbeitermangel die Rede.
Bosbach | Da bekomme ich regelmäßig einen Anfall. Wenn wir heute einen Facharbeitermangel haben, dann hat das nichts mit Demografie und zu wenigen Jugendlichen zu tun. Es hat damit zu tun, das wir seit den 90er Jahren zu wenig Jugendliche ausgebildet haben. Noch heute werden zwischen 50000 und 150000 Jugendliche pro Jahr nicht vernünftig oder gar nicht ausgebildet. Wenn wir heute nicht ausbilden, dann haben wir morgen keine Facharbeiter.
ver.di PUBLIK | Was müsste getan werden?
Bosbach | Zuallererst müssten Jugendliche eine qualitativ hochwertige und vernünftige Ausbildung bekommen. Das läuft zur Zeit weder in den Betrieben noch in den Schulen und Hochschulen. Außerdem müssen wir endlich humane Arbeitsbedingungen schaffen, so dass sich die Zahl der Frühverrentungen reduziert.
ver.di PUBLIK | Was halten Sie in diesem Zusammenhang von der Rente ab 67?
Bosbach | Die Rente ab 67 wird für den übergroßen Teil der Bevölkerung eine Rentenkürzung in Höhe von mindestens 7,2 Prozent mit sich bringen. Denn viele Menschen werden höchstens bis 65 arbeiten. Geprüft wird jetzt von der Regierung, inwiefern ältere Menschen "in höherem Maße" beschäftigt sind. Denn so schreibt es das Gesetz schwammig vor. Stattdessen wäre es für mich viel wichtiger zu prüfen: Ist die Arbeitslosigkeit signifikant zurückgegangen? Und: Ist ein erheblicher Teil der Jugendlichen in Arbeit und Ausbildung? Wenn es Jugendarbeitslosigkeit gibt, darf es keine Erhöhung des Renteneintrittsalters geben!
ver.di PUBLIK | Die Politik scheint demografische Daten ganz nach Belieben zu benutzen.
Bosbach | Ja. Wenn die Daten unseren Politikern in den Kram passen, werden sie benutzt, um die Rentenversicherung zu privatisieren. Wenn sie einem nicht gefallen, weil Ausbildungsplätze geschaffen oder Hochschulen gebaut werden müssten, blendet die Politik die Daten aus. Politiker benutzen die Statistik, wie ein Betrunkener einen Laternenpfahl. Nicht, um eine Sache zu beleuchten, sondern um sich daran festzuhalten.
Interview: Karin Flothmann
Wenn es Jugendarbeitslosigkeit gibt, darf es keine Erhöhung des Renteneintrittsalters geben!