DIERK HIRSCHEL ist ver.di-Wirtschaftsexperte

Der Euro schwebt weiter in Lebensgefahr. Merkel, Junker, Sarkozy & Co. spannen jetzt einen größeren Rettungsschirm auf. Doch für die Nothilfe verlangt die deutsche Kanzlerin einen hohen Preis. Frisches Geld für klamme Griechen, Iren und Spanier gibt es nur gegen eisernes Sparen, Lohndumping und Sozialabbau. Europa soll an einer Zwangsdiät genesen.

Angela Merkel hat die Geschichte der Schuldenkrise umgeschrieben. Verantwortlich für die Krise der europäischen Staatsfinanzen sind nach offizieller Lesart der schummelnde Dimitri und der prassende Carlos. Verantwortungslose Kassenwarte haben angeblich jahrelang Steuergeld aus dem Fenster geschmissen. Merkels ökonomische Märchenwelt bricht sich jedoch an der Realität. Die heutigen Schuldenstaaten Irland und Spanien waren vor dem Zusammenbruch ihrer Glaspaläste und Immobilienmärkte haushaltspolitische Musterschüler. Auch hierzulande schrumpften vor der Krise die realen Staatsausgaben. Die hohe Staatsverschuldung ist nicht die Ursache, sondern die Folge der Krise. Es war die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise, die die Schulden europaweit explodieren ließ. Bankenrettung, Konjunkturpakete und steigende Arbeitslosigkeit ließen die Schuldenquote im Euroland von 66 auf 84 Prozent klettern.

Einer falschen Diagnose folgt zumeist eine falsche Therapie. Berlin fordert nun schärfere europäische Schuldenregeln, will sozusagen die deutsche Schuldenbremse exportieren. Konjunkturblindes Sparen verschlechtert aber nur die Gesundheit des europäischen Patienten. Ein Staatshaushalt ist kein Privathaushalt. Die Tugenden der schwäbischen Hausfrau taugen nicht als Gebrauchsanweisung für Staatsfinanzen. Staatliche Ausgaben sind immer auch Einnahmen der Unternehmen und Privathaushalte. Wenn die Kassenwarte in wirtschaftlich schlechten Zeiten auf die Ausgabenbremse treten, verschärft sich die Krise. Haushaltspolitik hat somit unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaftslage. Umgekehrt beeinflusst aber auch die Konjunktur den Haushalt. Im Aufschwung sprudeln die Steuereinnahmen. Im Abschwung leeren sich die öffentlichen Kassen. Aus diesem Grund schrumpfen Schuldenberge am besten in wirtschaftlich guten Zeiten. Deswegen konnten vor der großen Krise Irland, Belgien, Spanien und Italien aus ihren Schulden herauswachsen. Umgekehrt ruinieren heute Zapatero in Spanien und Papandreou in Griechenland mit ihren Sparpaketen die heimische Wirtschaft. Folglich wachsen in Athen, Dublin, Lissabon und Madrid nur die Schulden. Ein gehärteter Stabilitätspakt nimmt den Finanzministern den notwenigen Spielraum, um die Haushaltspolitik dem Auf und Ab der Konjunktur flexibel anzupassen. Der neue Stabilitätspakt ist nichts anderes als eine Wachstums- und Beschäftigungsbremse.

Doch damit nicht genug. Angela Merkel sorgt sich nicht nur um die Staatsfinanzen, sondern auch um die Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Kellerkinder (Pakt für Wettbewerbsfähigkeit). Athen, Lissabon und Madrid müssen künftig wirtschaftlich leistungsfähiger werden. So weit, so gut. Doch anstrengen und verändern müssen sich aus Sicht der Kanzlerin ausschließlich die Schuldnerländer. Oder um es mit Merkels eigenen Worten auszudrücken: Leistungsbilanzen sind auch Leistungszeugnisse. Das wirtschaftspolitische Rezept folgt auf dem Fuß: Wenn die eigenen Waren und Dienstleistungen im Ausland nicht mehr nachgefragt werden, dann müssen Löhne und Sozialausgaben runter. Nur wenn der Urlaub in Delos oder Cordoba wieder billiger ist als in Rostock oder Garmisch-Partenkirchen, schrumpfen auch die griechischen und spanischen Defizite. Gleiches gilt für die südeuropäischen Exporte. Merkels Vulgärökonomie löst aber kein Problem. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Schuldenstaaten hängt immer auch von den Löhnen und Preisen der Überschussländer ab. Seit Euro-Einführung hat die schwache deutsche Lohnentwicklung den Verdrängungswettbewerb in der Eurozone angeheizt. Ohne einen wirtschafts- und lohnpolitischen Kurswechsel in Berlin gibt es in Athen, Madrid und Lissabon keine blühenden Landschaften. Zumal der Süden Europas durch fallende Löhne und Staatsausgaben im Krisensumpf zu versinken droht.

Geradezu ungeheuerlich ist, dass die Kapitalmärkte in Merkels Rettungsplan die Rolle des Schiedsrichters übernehmen. Investmentbanken, Hedge-Fonds und Rating-Agenturen - überwiegend Unternehmen, die es ohne öffentliche Rettungspakete nicht mehr geben würde - entscheiden weiterhin über den Preis der Staatsfinanzierung. Kassenwarte, Sozialpolitiker und Gewerkschaften sollen so lange verzichten, bis ihre Heimatländer wieder das Vertrauen der Finanzmärkte gewinnen. Wahnsinn! Eines ist jetzt schon sicher: Wenn Merkels Operation gelingt, ist der europäische Patient tot.

Die hohe Staatsverschuldung ist nicht Ursache, sondern Folge der Krise