Christian Günster ist Forschungsbereichsleiter am Wissenschaftlichen Institut der AOK und Mitherausgeber des Versorgungsreports 2012 Gesundheit im Alter

ver.di Publik | Der Versorgungsreport 2012 hat den Schwerpunkt Gesundheit im Alter. Worum geht es darin?

Christian Günster | Dieser Report gehört zu unserer neuen Reportreihe, die sich der Versorgungssituation von gesetzlich Krankenversicherten widmet. Er ist gemeinsam mit der Uni Bremen entstanden. In seinen empirischen Beiträgen werden die Daten von 24 Millionen Versicherten mit 350 Millionen Praxiskontakten im Jahr ausgewertet.

ver.di Publik | Welches Resultat halten Sie für besonders wichtig?

Günster | Ein Ergebnis, das Besorgnis erregen muss, ist die Tatsache, dass bei Patientinnen und Patienten über 65 gesundheitliche Risiken oft durch ungeeignete Medikamente und das gleichzeitige Einnehmen vieler Arzneimittel entstehen. Rund vier Millionen Älterer erhalten mindestens ein für sie problematisches Medikament, dessen Wirkung für sie nicht erwiesen ist oder sogar schadet. Bei 5,5 Millionen kommt es zu einem Risiko durch die gleichzeitige Einnahme verschiedener Substanzen. Bei 42 Prozent der Gesamtbevölkerung steht, wie die Hochrechnung ergibt, ein Medizincocktail von fünf oder mehr Wirkstoffen auf dem Nachttisch. Der ist oft von ein und demselben Hausarzt verschrieben - und nicht immer notwendig. Da müssen stattdessen Prioritäten in der Therapie gesetzt werden, wichtig ist auch der Austausch unter den Ärzten. Nebenwirkungen und Nutzen von vielen Medikamenten bei Älteren sind bisher nicht getestet worden, es gibt für diese große Gruppe von Menschen noch sehr wenige Studien. Das muss sich ändern.

ver.di Publik | Und was können die Patienten tun?

Günster | Den Arzt ausdrücklich darauf aufmerksam machen, welche Präparate sie noch nehmen. Die Packungen ruhig in der Praxis vorlegen. Sinnvoll ist auch, sich von einem zweiten Arzt beraten zu lassen, wenn man unsicher ist.

ver.di Publik | Was hat der Report in Bezug auf die vielbesprochene Kostenexplosion ermittelt?

Günster | Das Klischee "Die alten Menschen treiben die Kosten der medizinischen Versorgung gewaltig in die Höhe" stimmt so nicht. Der Gesundheitsökonom Stefan Felder von der Universität Basel hat eine Prognose bis 2050 aufgestellt. Danach ist der Kostenanstieg bei den Gesetzlichen Krankenkassen wegen der alternden Bevölkerung im Gegenteil sogar vergleichsweise gering. Felder prognostiziert im Versorgungsreport 2012 für die Zeit bis 2050 insgesamt ein Wachstum um 19 Prozent wegen der wachsenden Zahl von Patienten über 65. Aber das bedeutet nur eine Zunahme um 0,4 Prozent im Jahr. Die steigende Lebenserwartung führt also nicht zu einer Kostenexplosion. Zum Vergleich: Zwischen 2005 und 2009 stiegen die Kosten der Krankenversicherungen insgesamt durchschnittlich um 3,7 Prozent pro Jahr. Die Ausgaben können also nicht einfach den Älteren angelastet werden.

ver.di Publik | Was bedeutet das für die Patientinnen und Patienten?

Günster | Es geht für sie - wie auch für die Krankenkassen - um mehr gesunde Lebensjahre im Alter, also um Vorbeugung, um Prävention. Der Versorgungsreport stellt gute Beispiele vor, so die Sturz-Prophylaxe-Programme in Pflegeheimen.

Interview: Claudia von Zglinicki

www.wido.de/vsreport

Versorgungsreport 2012: Schwerpunktthema "Gesundheit im Alter", Herausgeber: Christian Günster, Joachim Klose, Norbert Schmacke

Es geht für Patientinnen und Patienten - wie auch für die Krankenkassen - um mehr gesunde Lebensjahre im Alter, also um Vorbeugung, um Prävention