1. Oktober 2010. Neulich hast Du mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, lieber Frank, als ich einen Brief aus dem ver.di-Umschlag zog: „Lieber Kollege Preisendörfer“, las ich, „vielleicht erinnern Sie sich noch an den November 1985?“ Wieso denn `85? Sonst wird man immer nach dem November `89 gefragt. Wo warst Du eigentlich, Frank, als die Mauer aufging? Ich war am anderen Ende der Sonnenallee und hab auf Trabidächer geklopft, und um drei Uhr in der Früh hat mich ein schluchzender Taxifahrer nach Hause in den Reuterkiez gebracht, dem damals nicht anzusehen war, wie hipp er einmal sein würde. Der weinende Chauffeur stellte sich übrigens beim Bezahlen als Koreaner heraus. Er hoffte, bei ihm zuhause wäre es nun auch bald soweit. Der arme Kerl wartet immer noch.

Aber davon wollte ich gar nicht schreiben. Sondern vom November `85. Der ist nämlich der Grund, warum ich Dich duze. Weil Du doch mein Gewerkschaftsführer bist. Obwohl ich im Brief gesiezt wurde, sagen wir Kolleginnen und Kollegen alle „du“ zueinander. Das ist in der Gewerkschaftsbewegung nun einmal uso, um es mit einer Bürowitzelei zu sagen. Das ist uso, zum Bleistift. Schönen Schrank auch.

Doch nicht wegen der Worte schreibe ich Dir, sondern wegen der Taten. Du musst aber nicht gleich erschrecken, obwohl auch ich erschrocken bin. Es geht jedoch nicht um eine Kritik der neuen Grundsatzerklärung vom März 2010, sondern um den November 1985. Ich hänge nämlich an der Nadel. Oder die Nadel an mir. Die Nadel kullerte aus dem Brief, in dem ich nach dem November 1985 gefragt wurde. Es war eine Ehrennadel und zu ihr gehörte eine „Ehren Urkunde zur 25-jährigen Mitgliedschaft in der Gewerkschaftsbewegung“.

Das mit der „Gewerkschaftsbewegung“ ist eine Notlösung. Denn obwohl ich heute Mitglied bei ver.di bin, trat ich im November `85 der dju bei. Später trat die dju der IG Druck bei und nahm mich mit. Dann trat die IG Druck der IG Medien bei und nahm mich mit. Dann trat die IG Medien ver.di bei und nahm mich mit. Deshalb bin ich heute nicht seit 25 Jahren Mitglied einer Gewerkschaft, sondern Mitglied der ganzen Bewegung.

Schön. Aber was mache ich mit der Urkunde? Was verdammt mache ich bloß mit der Urkunde? Das war es eigentlich, was ich Dich fragen wollte.

Dein Bruno Preisendörfer

Bruno Preisendörfer kommt aus Kleinostheim in Unterfranken, und lebt als Schriftsteller in Berlin. Er führt einen literarischen blog unterwww.fackelkopf.de, sein aktuelles Buch Candy oder die unsichtbare Hand ist im Verlag Das Arsenal erschienen.