Um Stimmung für ihre Interessen zu machen, verbreiten Ministerien oder Lobbyorganisationen gerne einschlägig aufbereitete Informationen. Viele Medien übernehmen diese, ohne sie zu hinterfragen

VON Henrik Müller

Nicht die Abgaben belasten die Beschäftigten, sondern die zu gering steigenden Bruttolöhne

Das Verunglimpfen von allem, was mit den Begriffen "Staat" und "Soziales" zu tun hat, gehört im real existierenden Kapitalismus unserer Tage zum politischen Instrumentenkasten jedes neoliberalen Politikers. Meistens findet es dann auch seinen Weg in einen Großteil der angeblich unabhängigen Medien. Und weil die Zusammenhänge zwischen Sozialabgaben, Steuern, Brutto- und Nettolöhnen tatsächlich recht kompliziert sind, ist die Verwirrung schnell komplett, wenn mal wieder Äpfel mit Birnen verwechselt werden. Wird daraus noch eine optisch interessante Infografik gebastelt, ist die Überzeugungskraft der Falschinformation perfekt.

Menschenverstand fehlt

Oft würde es in der einen oder anderen Redaktion schon reichen, den gesunden Menschenverstand einzuschalten und zwei und zwei zusammenzurechnen, um zu erkennen, dass an dieser oder jener Statistik etwas nicht stimmen kann. Wie im April dieses Jahres, als die Deutsche Presse-Agentur (dpa) und daraufhin die Online-Ausgabe der Tageszeitung Die Welt offensichtlich auf eine Darstellung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) stießen, die ihren Betrachtern weismachen wollte, dass Lohnsteuer und Sozialabgaben seit 1991 und besonders in den letzten Jahren wesentlich stärker gestiegen seien als die Löhne.

Weil das so schön ins Konzept passte, um Propaganda gegen die hohen Einnahmeüberschüsse der Sozial-, speziell der Krankenkassen zu machen, wurde bei Welt online daraus die Schlagzeile: "Deutsche zahlen so viel an den Staat wie nie zuvor." Die Sozialkassen hätten 2011 den höchsten Überschuss seit fünf Jahren angehäuft, hieß es. Doch die Arbeitnehmer hätten nicht nur deutlich höhere Abgaben zahlen müssen, sondern gleichzeitig seien auch die Reallöhne gesunken, schrieb der Welt-Autor. Dazu kam dann eine Infografik mit dem Titel "Arbeitnehmer leiden unter Abgabenlast", die prompt weitere Verbreitung im Internet fand.

Dass Staat und Sozialkassen insgesamt mehr Steuern und Abgaben einnehmen, wenn mehr Menschen in Lohn und Brot sind (wenn auch meist zu prekären Bedingungen) und wenn die Gewerkschaften deutliche Lohnsteigerungen durchsetzen, ist logisch. Aber Welt online behauptete, die Belastungen der einzelnen Arbeitnehmer/innen seien übermäßig gestiegen. dpa und Welt online haben dabei übersehen, dass das BMAS in seiner Zahlenreihe die Entwicklung der realen Nettolöhne mit derjenigen der nominalen Steuern und Sozialabgaben verglichen hatte.

Der reale Nettolohn sagt aus, was ein/e Arbeitnehmer/in von dem Geld kaufen kann, das sie ausgezahlt bekommen, und zwar im Vergleich zum Vorjahr oder einem weiter zurückliegenden Zeitraum. Das ist - wegen der allgemeinen Steigerung der Lebenshaltungskosten, auch Inflation genannt - in der Regel weniger als zuvor, es sei denn, der Lohn ist gestiegen. Steigt der Nominallohn - das ist der in Euro und Cent ausgedrückte Betrag - stärker als die Inflationsrate, hat der Arbeitnehmer real mehr in der Tasche. Steigt er gar nicht oder weniger als die Inflationsrate, hat der Arbeitnehmer einen Reallohnverlust.

Die nominale und die reale Entwicklung kann man auch bei Steuern und Sozialabgaben betrachten. Was man aber nicht machen kann, ist ein Vergleich von realer Lohnentwicklung mit der nominalen Entwicklung von Steuern und Abgaben. Daraus kann nur die irregehende Überzeugung entstehen, dass letztere ständig stärker steigen als die Kaufkraft der Löhne.

Bei dpa und Welt online entstand durch die umstandslose Übernahme der Zahlen des Arbeitsministeriums dann auch prompt der - möglicherweise erwünschte - Eindruck, dass der durchschnittliche Nettolohn der Arbeitnehmer/innen in Deutschland im Laufe der letzten 21 Jahre um knapp fünf Prozent leicht gesunken, die Belastung durch Lohnsteuer und Sozialabgaben hingegen um 36 Prozent gestiegen sei.

Lügen mit Zahlen

Die Experten des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugend- berufshilfe (BIAJ) haben nachgerechnet und festgestellt, dass der durchschnittliche Anteil der Lohnabzüge vom Bruttolohn seit 17 Jahren, also von 1995 bis 2011, bei geringfügigen Schwankungen konstant bei gut 33 Prozent liegt. Der Statistik-Professor Gerd Bosbach und der Historiker und Politologe Jens Jürgen Korff, Autoren des Buches "Lügen mit Zahlen"*, machen auf der Internet-Plattform www.nachdenkseiten.de folgende Rechnung auf: Von 1996 bis 2011 sind die Sozialabgaben eines Arbeitnehmers nominal um 37,6 Prozent gestiegen, real, also preisbereinigt, aber nur um 12,2 Prozent. Die Lohnsteuerabzüge sind danach nominal um 6,8 Prozent gestiegen, real aber sogar gesunken, nämlich um 18,6 Prozent. Nimmt man beides zusammen, sind die Belastungen laut Bosbach und Korff zwar nominal um 21,2 Prozent gestiegen, real aber um gut vier Prozent gesunken.

Die Abteilung Wirtschaftspolitik beim ver.di-Bundesvorstand (www.wipo.verdi.de) rechnet vor, dass das Problem nicht bei Lohnsteuer und Sozialabgaben liege, sondern beim Bruttolohn: "Die Lohnzuwächse waren viel zu gering, geringer als die Preissteigerung." Und weiter: "Propaganda gegen Steuern und Sozialbeiträge soll davon ablenken, dass große Unternehmen und Vermögende immer reicher werden und viel zu wenig Steuern zahlen." Nur kräftige Lohnsteigerungen und mehr Steuergerechtigkeit brächten mehr netto, mehr Geld für den Sozialstaat und mehr Kaufkraft für eine stabilere Wirtschaft.

Die Manipulation durch das Verbreiten halbgarer Zahlen und Statistiken durch interessierte Verbände und Politiker würde nicht in dem Maße funktionieren, wenn die Medien insgesamt aufmerksamer und kritischer wären. Sie müssten zum Beispiel nicht allmonatlich die geschönte Arbeitslosenstatistik der Bundesanstalt für Arbeit (BA) nachbeten. Sie könnten stattdessen aus den Monatsberichten der BA die Zahlen derjenigen zusammentragen, die ebenfalls arbeitslos sind, aber offiziell aus diversen Gründen nicht mitgezählt werden. Ähnliches gilt für andere Themen. Einfach mal nachrechnen könnte schon helfen.

* Gerd Bosbach, Jens Jürgen Korff: Lügen mit Zahlen. Wie wir mit Statistiken manipuliert werden, Heyne-Verlag, München, 320 S., 18,99 €, ISBN: 978-3453173910