DR. CHRISTOPH BUTTERWEGGE ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln*

Vor zehn Jahren legte die Regierungskommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" ihren Bericht vor. Sie hätte die Entwicklung des zeitgenössischen Kapitalismus analysieren und auf dieser Grundlage ein schlüssiges Konzept zur Krisenbewältigung präsentieren können - als Entwurf einer aktiven Wirtschafts-, Struktur- und Beschäftigungspolitik. Stattdessen machte die sogenannte Hartz-Kommission als Ursachen der Massenarbeitslosigkeit das Fehlverhalten einzelner Bürgerinnen und Bürger und bürokratische Schwerfälligkeiten der Arbeitsverwaltung ausfindig. So untermauerte sie das verbreitete Vorurteil, dass die Betroffenen ihr Schicksal letztlich selbst verschulden, weil sie faul seien, zu wenig Eigeninitiative entfalteten und nur deshalb keine Arbeitsstelle fänden. Gleichzeitig wurden der Staat und seine angeblich unfähigen Beamten zu Sündenböcken gemacht.

Auf dieser Philosophie fußt das nach dem damaligen VW-Manager und Kommissionsvorsitzenden Peter Hartz benannte Gesetzespaket: "Hartz IV" wurde zur berühmt-berüchtigten Chiffre für den "Um-" bzw. Abbau des Sozialstaates. Mit der Arbeitslosenhilfe wurde zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung abgeschafft. Die als Ersatz für sie konzipierte Grundsicherung für Arbeitsuchende orientiert sich nicht mehr am früheren Nettoverdienst eines Langzeitarbeitslosen, sondern bricht mit dem Prinzip der Lebensstandardsicherung und stürzt auch Facharbeiter und Ingenieure, die nicht sofort eine neue Stelle finden, nach einer kurzen Schonfrist in die Armut.

Nach der meistens auf zwölf Monate verkürzten Bezugszeit des Arbeitslosengeldes bekommen Erwerbslose ein Arbeitslosengeld II, das man treffender "Sozialhilfe II" nennen sollte, weil unter seinen Bezieher/innen nicht ausschließlich Erwerbslose, sondern auch zirka 1,3 Millionen Geringverdiener/innen sind, deren Arbeitgeber sich ihre Lohndrückerei vom Steuerzahler subventionieren lassen. Außerdem bewegt es sich auf dem Niveau der Sozialhilfe, die Nichterwerbsfähige erhalten. Betroffene müssen Ein-Euro-Jobs (die sogenannten Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung) und Beschäftigungsmöglichkeiten fast zu jedem Preis annehmen. Neben der beruflichen Qualifikation und den - oft in Jahrzehnten gewonnenen - Erfahrungen und (sozialen) Kompetenzen bleibt auch die laut Verfassung "unantastbare" Würde der Betroffenen dabei auf der Strecke.

Die damalige rot-grüne Bundesregierung verfolgte mit den Hartz-Gesetzen zwei Hauptziele: Einerseits wollte sie Arbeit billiger und die deutsche Exportwirtschaft dadurch auf den Weltmärkten noch konkurrenzfähiger machen. Das gelang auch, hatte aber schlimme Folgen. Eine davon tritt uns heute als Euro- bzw. als "Staatsschuldenkrise" entgegen, die durch die Schaffung eines "funktionierenden Niedriglohnsektors" (Gerhard Schröder) in der Bundesrepublik mit bedingt ist. Denn andere Volkswirtschaften wurden durch das deutsche Lohndumping zurückgeworfen, und mehrere Länder der südlichen EU-Peripherie konnten die eigenen Industrieprodukte kaum noch absetzen, sondern überschuldeten sich, um ihre steigenden Importe bezahlen zu können.

Das stark an "Zuckerbrot und Peitsche" erinnernde Doppelmotto "Fördern und Fordern", unter dem Hartz IV steht, wurde praktisch nur in seinem letzten Teil eingelöst: Nie war der Druck auf Erwerbslose, aber indirekt auch auf alle Beschäftigten und ihre Gewerkschaften größer. Und nie war die Bereitschaft des Staates geringer, Geld für berufliche Qualifikation, Fortbildung und Umschulung auszugeben. Die massiv geschürte Furcht vor drohender Verarmung und sozialem Abstieg wirkt disziplinierend auf Menschen, die sich früher weitgehend auf das Sicherungsnetz eines aktiven Wohlfahrtsstaates verlassen konnten und nun das Bestrafungsarsenal der "aktivierenden Arbeitsmarktpolitik" kennenlernen. Die verschärften Zumutbarkeitsregelungen lösten einen Boom der Leiharbeit aus, der bis heute anhält. Ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor, wie ihn die Hartz-Gesetze errichten halfen, verhindert aber weder Arbeitslosigkeit noch Armut, sondern weitet sie aus.

Momentan wird das von der Hartz-Kommission entwickelte Konzept den Krisenländern im Euro-Raum als arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Patentrezept empfohlen oder per "Fiskalpakt" aufgedrückt. Ebenso wie die Senkung des Rentenniveaus à la Riester (Teilprivatisierung der Altersvorsorge), Rürup beziehungsweise Müntefering (Einführung des "Nachhaltigkeitsfaktors" und Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch Erhöhung des Renteneintrittsalters) ist Lohndumping à la Hartz zum Exportschlager der Regierung Merkel geworden.

*Der Autor hat kürzlich seine Bücher Armut in einem reichen Land sowie Krise und Zukunft des Sozialstaates aktualisiert neu herausgebracht.

Nie war der Druck auf Erwerbslose, aber indirekt auch auf alle Beschäftigten und ihre Gewerkschaften größer