Vor der Netto-Filiale Göttingen, Prinzenstraße (v.l.n.r.): Jutta Riemann, Kassiererin, Katharina Wesenick, ver.di-Gewerkschaftssekretärin, Bärbel Pursche-Bürger, stellvertretende Marktleitung, Tanja Fengewisch, Kassiererin, Kerstin Lepkojus, Kassiererin

Von heute auf morgen hat der Lebensmitteldiscounter Netto im Juni vier seiner sieben Göttinger Filialen geschlossen. Aus "wirtschaftlichen Gründen", heißt es bei der Edeka-Tochter Netto offiziell. Das will die Gewerkschaftssekretärin Katharina Wesenick nicht glauben. Sie kümmert sich im ver.di-Bezirk Südost-Niedersachsen um die Netto-Beschäftigten. Ihre Vermutung ist, dass die Geschäftsführung mit den überraschenden Schließungen der erfolgreichen Vertrauensleutearbeit vor Ort Einhalt gebieten will. Sie solle nicht zum Vorbild für gewerkschaftliche Aktivitäten in anderen Regionen werden. Vergebens. Im August gingen ver.di-Aktive in Duisburg und Essen an die Öffentlichkeit (s. unten). Seit Anfang 2012 gibt es bei Netto in der Region Göttingen gewerkschaftliche Vertrauensleute, die ersten in der Branche. Zwar hat Netto sieben Betriebsratsbezirke bundesweit, aber die Gremien sind jeweils für große Flächen zuständig.

Zufrieden sind die Göttinger Vertrauensleute mit der Arbeit ihres Betriebsrats nicht. Er verzichte auf vier ihm zustehende Freistellungen und halte nur wenige Betriebsversammlungen ab, kritisierten sie bei einem ihrer monatlichen Treffen im Juni. Einzig Betriebsratsmitglied Petra Lenger, die ver.di im Betriebsrat vertritt, nahm an den Treffen der Vertrauensleute im südlichen Niedersachsen teil. Der Vorwurf, dass sich der Arbeitgeber in die Betriebsratswahlen eingemischt hat, scheint nicht weit hergeholt. In den Regionen Ost und Südost hatte ver.di vor Gericht durchgesetzt, dass deswegen neu gewählt wird.

In Göttingen haben die Netto-Beschäftigten die Dinge selbst in die Hand genommen. Immer mehr von ihnen waren zu Katharina Wesenick in die ver.di-Geschäftsstelle gekommen, hatten Überstunden und zunehmenden Arbeitsdruck beklagt. Viele litten als Folge dieser Arbeitsbedingungen unter körperlicher Erschöpfung. Die Gewerkschafterin begann daraufhin mit Filialbesuchen, motivierte die Beschäftigten, sich mit diesen Zuständen nicht abzufinden. Am 1. Mai 2011 gingen die Beschäftigten das erste Mal an die Öffentlichkeit, erzählten von ihren Arbeitsbedingungen. Geschützt sind sie durch ein Netz von Paten, etwa Politiker/innen und Wissenschaftler/innen, die regional oder bundesweit bekannt sind.

Um gewerkschaftliche Strukturen vor Ort aufzubauen, wählten die Beschäftigten Vertrauensleute. Mit dabei ist Katja Nelke. "Ich will anderen zeigen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind", sagt sie. Wie ihre gewählten Kolleg/innen trägt sie während der Arbeitszeit selbstbewusst die Anstecknadel mit der Aufschrift "Aktiv im Betrieb - ver.di-Vertrauensleute". So macht sie den Netto-Beschäftigten deutlich, dass sie für sie da ist. Gemeinsam haben die Vertrauensleute auch einen Flyer entworfen, in dem sie sich vorstellen.

Durch den Flyer ist auch Alexa Lichtenberg auf die gewerkschaftlich Aktiven aufmerksam geworden. "Ich finde es gut, dass es die Vertrauensleute gibt", sagt die Auszubildende. Sie habe ihre Probleme bisher selbst gelöst, "ich bin eine, die immer den Mund aufmacht". Sie leidet, wie viele Auszubildende bei Netto, darunter, dass sie im Laden nur an der Kasse eingesetzt wird. Andere Azubis müssen gleich die stellvertretende Filialleitung übernehmen. Aber von qualifizierter Ausbildung kann in beiden Fällen nicht die Rede sein. Als Alexa Lichtenberg gerade durchgesetzt hatte, dass sie auch andere Arbeitsbereiche kennenlernen kann, wurde sie versetzt. Anfang September will die 21-Jährige jetzt mit ver.di-Unterstützung vor der Industrie- und Handelskammer dafür sorgen, dass Netto den Ausbildungsrahmenplan einhalten muss.

Auszubildende werden ausgenutzt

In den verbliebenen drei Göttinger Filialen geht es zurzeit durch die Schließungen ohnehin drunter und drüber. Es gab noch keine Entlassungen, befristete Verträge sollen aber auslaufen. So drängeln sich derzeit 90 Beschäftigte in drei Filialen. Dort kommen sie nicht auf die vertraglich vereinbarten Stunden. Jetzt kämpfen die Vertrauensleute unter anderem dafür, dass die Beschäftigten nicht versetzt werden, ohne dass ihre Belange dabei beachtet werden.

Dass Auszubildende vermehrt als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden, ist ein Zeichen des Preiskampfes in der gesamten Lebensmitteldiscounter-Branche. Die Umsätze stagnieren, die Arbeitgeber versuchen, die Löhne weiter zu drücken. So war es, berichten die Vertrauensleute, bei Netto üblich, dass vor oder nach der offiziellen Arbeitszeit unbezahlte Überstunden geleistet wurden. "Anfangs habe ich eine Stunde am Tag umsonst gearbeitet", erzählt Bärbel Pursche-Bürger bei dem Vertrauensleute-Treffen im Juni. "Heute ist es deutlich weniger." Und als einer aus ihrer Gruppe sagt, er komme immer noch eine halbe Stunde vor Dienstbeginn in die Filiale, weil er sonst Obst und Gemüse nicht rechtzeitig vor Ladenöffnung in die Regale geräumt bekomme, machen die anderen ihm Dampf: "Hau doch mal auf den Tisch", heißt es, und: "Es ist doch nicht dein Laden."

Ihr Selbstbewusstsein ist gewachsen. Als Anfang Juni an einem Samstag den Beschäftigten von zwei Filialen mitgeteilt wurde, dass diese ab Montag geschlossen seien, organisierten sie kurzentschlossen selbstständig eine Aktion in der Innenstadt. Mit dabei waren die Paten, die örtliche Presse berichtete, die lokale Politik wurde aufmerksam.

Als Ende Juni zwei weitere Filialen geschlossen wurden, gingen die Vertrauensleute in die Offensive. Sie stellten in kurzer Zeit die Website www.neulich-bei-netto.de ins Netz, ein bundesweites Forum für Netto-Beschäftigte, Kund/innen und Interessierte. Die Zahl der Pat/innen ist ebenso wie die der Unterstützer/innen angestiegen. Solidaritätsadressen gehen ein, sogar eine der New Yorker Einzelhandelsgewerkschaft. Austritte habe es keine gegeben, sagt Katharina Wesenick, im Gegenteil, weitere Netto-Beschäftigte seien in ver.di eingetreten.

Auf jeden Fall wolle sie weitermachen mit ihrem Engagement, sagte Vertrauensfrau Kerstin Lepkojus Mitte August, auch wenn ihr die Auseinandersetzung so zugesetzt hat, dass sie jetzt erst einmal krank geschrieben ist. Dass die Filiale an der Reinhäuser Landstraße, in der sie lange gearbeitet hat, aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen worden ist, kann sie nicht nachvollziehen. Auch sie vermutet eher ein Abstrafen der Vertrauensleutearbeit. "Aber es ist richtig, dass wir nicht zu Kreuze kriechen", sagt sie. "Wir wollen ja nichts Schlimmes. Wir wollen nur, dass es gerecht bleibt."


Weitere Aktivitäten

Regelmäßig treffen sich mittlerweile auch in Essen und Duisburg Netto-Beschäftigte. Auch sie wollen die Probleme, die sie an ihren Arbeitsstellen haben, gemeinsam angehen. In beiden Orten haben sie per Rückkopplung in die Betriebe über Fragebogen herausgearbeitet, welches Thema ihnen besonders unter den Nägeln brennt. In Essen geht es um eine bessere Besetzung der Filialen, in Duisburg wollen sie erreichen, dass die Einteilung der Arbeitszeit nicht erst am Donnerstag der Vorwoche bekannt gegeben wird.

An beiden Orten haben die Aktiven Ende August der Geschäftsführung eine Petition mit rund 180 Unterschriften von Netto-Kolleg/innen überreicht. Kontakte hat es zwischen den Aktiven beiderorts schon gegeben. Sie wollen sie ausbauen, denn die meisten Probleme sind ähnlich. Auch in Köln treffen sich seit einiger Zeit ver.di-Aktive, die sich für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einsetzen wollen.

Die Essener Aktiven sind inzwischen auch auf der Website www-neulich-bei-netto.de präsent. Hier sind auch die Vertrauensleute aus Südost-Niedersachsen zu finden und ver.di-Aktive aus der Netto-BR-Region Südost, in der gerade ein neuer Betriebsrat gewählt wird.

Vertrauensleute

Vertrauensleute sind gewerkschaftliche Interessenvertreter/innen im Betrieb. Gewählt werden sie alle vier Jahre auf Mitgliederversammlungen oder in geheimer Abstimmung. Sie halten Kontakt zu den ver.di-Mitgliedern im Betrieb, stehen ihnen bei Problemen mit Sachverstand zur Seite und überzeugen Nicht-Mitglieder von den Vorteilen der Gewerkschaft. Damit sind sie ein wichtiges Bindeglied zwischen Betrieb und Gewerkschaft. Mehr zur Vertrauensleutearbeit in ver.di finden ver.di-Mitglieder unter

https://mitgliedernetz.verdi.de