Vigdís Finnbogadóttir

ver.di PUBLIK | Frau Finnbogadóttir, das geht ja hier in einer Tour, Sie sind als Interviewpartnerin so begehrt wie ein Rockstar!

Vigdís Finnbogadóttir | Oh, das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit einem Rockstar verglichen werde. Das gefällt mir. Dauernd kommen nette Frauen wie Sie und stellen mir Fragen. Ein großes Vergnügen.

ver.di PUBLIK | Sie kennen noch den Anblick des völlig zerstörten Berlins. Wie empfinden Sie die Stadt heute?

Vigdís | Es ist für mich wie ein Wunder. Ich weiß nicht, ob Sie das sehen, aber ich sehe es, weil ich von außen komme, wie hier alles kocht und brodelt. Wir alle in der Welt sind dankbar, dass die Mauer weg ist. Selbst in Island. Und Sie wissen ja, die Tür zur Wiedervereinigung wurde in Island aufgestoßen! Am 10. Oktober 1986 haben sich bei uns Reagan und Gorbatschow getroffen, um zu diskutieren, wie man den kalten Krieg beenden könnte. Sie trennten sich, ohne sich einigen zu können. Aber wir alle wussten, dass jetzt die Tür erstmals aufgemacht worden ist. Und nur drei Jahre später fiel die Mauer.

ver.di PUBLIK | Sie sind hier, um Werbung für Ihr Sprach- und Kulturinstitut zu machen.

Vigdís | Das stimmt. Wir bauen gerade neben der Uni in Reykjavik, der seit acht Jahren das Institut für Fremdsprachen angegliedert ist, ein Zentrum für Sprachen und Kulturen. Als UNESCO-Botschafterin für Fremdsprachen bin ich recht firm auf diesem Gebiet. Das Vigdís-Finnbogadóttir-Institut ist eine große internationale und akademische Einrichtung. Ich habe unter anderem daran mitgewirkt, die Fremdsprachen zu kartieren, also festzustellen, welche Sprachen vom Aussterben bedroht sind.

ver.di PUBLIK | Ein großes Unterfangen – warum in Island?

Vigdís | Weil wir die älteste Sprache Europas sprechen, die seit dem Mittelalter fast unverändert geblieben ist. Wir haben übrigens viele gemeinsame Wörter mit dem Deutschen. Jeder, der nach Island kommt, wird ins Institut gehen wollen, einfach um zu gucken, ist meine Sprache auch dabei? Und wenn ja, wie ist sie dargestellt? In einem anderen Land will man auch seine eigene Identität wiederfinden, und das ist in unserem Zentrum gegeben. Das ist Psychologie. Hier führe ich Gespräche darüber, welche Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Hochschulen bestehen, um den deutsch-isländischen Austausch, insbesondere in den Bereichen Sprache und Kultur, zu intensivieren.

ver.di PUBLIK | Wie sind Sie eigentlich zur Politik gekommen? Sie waren ja von Beruf Theaterdirektorin.

Vigdís | Die Leute haben mich da reingedrängelt. 1975 erklärten die Vereinten Nationen zum Jahr der Frau. Direkt nach dem Jahr des Baums. Natürlich konzentrierte sich das auf den Aspekt der Unterdrückung. In Island aber waren die Frauen damals sehr unzufrieden mit ihrer Position im politischen Leben. Also beschlossen sie, einen Tag frei zu nehmen. Alles wurde heimlich vorbereitet, ein ganzes Jahr lang ging das husch husch, still und leise, niemand hat etwas verraten. Man hat so getan, als wisse niemand etwas davon.

ver.di PUBLIK | Und stimmte das?

Vigdís | Nein, die Männer wussten es doch. Als der 25. Oktober 1975 kam, also der Frauentag, sind alle berufs-tätigen Frauen Islands zu ihrem Chef gegangen und haben gefragt, ob sie den Nachmittag frei haben könnten. Wir wollten uns treffen, um unsere Belange und Ziele zu besprechen. Und die Männer haben gesagt, na klar, Liebes, geh' du da mal hin. Sonst hätte es einen Frauenstreik gegeben. Das schwante ihnen schon. Das war der Trick.

ver.di PUBLIK | Und was passierte dann?

Vigdís | Das ganze Land war an diesem Nachmittag paralysiert. Alles stand still: die Theater, die Kinos, die Banken, die Fischfabriken, der Export. Wir haben bewiesen, dass Frauen ebensolche Säulen des Lebens sind wie die Männer. Das war ein wunderbarer Tag, Tausende von Frauen, die sich allein in Reykvavik getroffen und gesungen haben, die Frauengewerkschafterinnen hielten Reden, und der liebe Gott fand es auch gut und hat uns im Oktober noch Sonnenschein beschert. Drei bis vier Generationen waren versammelt, meine Mutter war dort und meine Tochter war auch dort. Es war ein wunderbarer Tag, der als Frauentag in Island in die Geschichte eingegangen ist.

"Sie wissen ja, die Tür zur Wiedervereinigung wurde in Island aufgestoßen!"

ver.di PUBLIK | Eine verlockende Idee.

Vigdís | Ich weiß. Ich treffe oft Frauen, die das gern wiederholen möchten. Denen muss ich aber sagen, dass es nicht von einem auf den anderen Tag geht, das war peinlich genau und über ein Jahr lang vorbereitet.

ver.di PUBLIK | Und das war der Beginn Ihrer politischen Karriere?

Vigdís | Ja, fünf Jahre später waren die Präsidentenwahlen, und die Isländer sagten, nach diesem Tag brauchen wir mindestens eine Frau unter den Kandidaten. Und zu meiner großen Überraschung kamen sie damit zu mir. Ich bin ins kalte Wasser gesprungen.

ver.di PUBLIK | Wie geht man an eine solche Aufgabe heran?

Vigdís | Die Antwort ist einfach. Wenn sie lange Zeit im Theater gearbeitet haben, kennen sie alle Seiten des Lebens. Da wird alles analysiert. Das Leben, die Gesellschaft, die menschliche Natur, die Liebe, Geburt und Tod. Das war eigentlich die beste Vorbereitung.

ver.di PUBLIK | Sie sind jetzt 82 Jahre alt. Wie sieht Ihr Arbeitstag aus?

Vigdís | Ich habe an der Uni ein Büro, und arbeite dort eng mit den Planern des Instituts zusammen. Außerdem reise ich viel, um unser Institut zu bewerben. In der letzten Zeit war ich wie ein Jojo. In Paris, Kopenhagen, und nun in Berlin. Aber ich bin ans Reisen gewöhnt, es ist mein Lebensstil. Ich bleibe natürlich auch mal zu Hause, ich habe ja auch eine Familie.

ver.di PUBLIK | Welchen Rat geben Sie Menschen Ihres Alters?

Vigdís | Bewegung für Kopf und Körper! Lernen Sie Sprachen, Mathematik, gehen Sie zu Schulungen und halten Sie sich in Bewegung. In Island sagt man über Pferde, sie stehen auf gutem Eisen. Das gilt für mich ganz genauso.

Interview: Jenny Mansch

Vigdís Finnbogadóttir, 82, wurde 1980 zur Präsidentin Islands gewählt und ist damit das erste demokratisch gewählte weibliche Staatsoberhaupt weltweit. Sie studierte Sprachen, Literatur- und Theaterwissenschaft in Paris und erlebte unterwegs das kriegszerstörte Berlin. Sie war Reiseführerin, Theaterdirektorin und entwickelte französische Lernformate fürs Fernsehen. Als Präsidentin wurde sie zweimal in einem Volksreferendum wiedergewählt, zuletzt mit 94 Prozent Stimmen. Heute ist Vigdís als UNESCO-Botschafterin für Sprache, für Frauenrechte und Bildung unterwegs.

"Sie wissen ja, die Tür zur Wiedervereinigung wurde in Island aufgestoßen!"

Vigdís Finnbogadóttir, 82, wurde 1980 zur Präsidentin Islands gewählt und ist damit das erste demokratisch gewählte weibliche Staatsoberhaupt weltweit. Sie studierte Sprachen, Literatur- und Theaterwissenschaft in Paris und erlebte unterwegs das kriegszerstörte Berlin. Sie war Reiseführerin, Theaterdirektorin und entwickelte französische Lernformate fürs Fernsehen. Als Präsidentin wurde sie zweimal in einem Volksreferendum wiedergewählt, zuletzt mit 94 Prozent Stimmen. Heute ist Vigdís als UNESCO-Botschafterin für Sprache, für Frauenrechte und Bildung unterwegs.