ver.di hat vor der Tarifrunde alle Beschäftigten der AOK mit einem Fragebogen nach ihrer Meinung gefragt. Jetzt kommt es darauf an, dass viele selbst aktiv werden

"Warum haben wir das nicht schon eher probiert?", fragt sich Sylvi Krisch, ver.di-Sekretärin und in der Bundesverwaltung für die AOK zuständig. "Es geht doch um Tarifarbeit, an der sich viele beteiligen!" Auch Elona Weidner aus der ver.di-Tarifkommission findet: "Die Idee lag eigentlich auf der Hand." Sie sprechen von der Befragung, die ver.di gemeinsam mit den Ehrenamtlichen der Tarifkommission und des ver.di-AOK-Ausschusses gewagt hat. Das Besondere daran: Alle Beschäftigten wurden gefragt, jede und jeder, nicht nur ver.di-Mitglieder. Was erwarten sie von der bevorstehenden Entgelt-Tarifrunde, soll ver.di überhaupt für sie verhandeln? Was soll durchgesetzt werden und für welche Forderung würden sie selbst etwas tun? Würden sie auch ver.di-Mitglied werden - um zusammen mehr zu erreichen?

Das Ziel der Umfrage beschreibt Elona Weidner so: "Wir brauchen den Auftrag der Beschäftigten, für sie zu verhandeln." Dazu ihr Vertrauen und ihre Bereitschaft, sich selbst zu rühren, bei aktiven Mittagspausen und auch in Streiks, öffentlich sichtbar. "Schluss mit ver.di als ewigem Stellvertreter", sagt Weidner. Und Sylvi Krisch stellt fest: "Nur wenn wir wissen, was die Beschäftigten wollen, und wenn sie bundesweit in mindestens zehn Bereichen streikbereit sind, können wir auf Augenhöhe mit dem Arbeitgeber verhandeln und müssen nicht betteln." Dann könne man auch Themen setzen, über die der Arbeitgeber bisher nicht reden will, etwa einen Demografie-Tarifvertrag.

"Bedingungsgebundene Tarifarbeit" ist der sperrige Begriff für diese Tarifpolitik, die möglichst viele Menschen einbeziehen und ihr Verhalten verändern will. Weg von der Einstellung: "ver.di macht das schon..."

Da jubeln die Statistiker

Die erste Messlatte hatten ver.di und die AOK-Aktiven sich hoch gelegt: 10 800 der bundesweit 54 000 Beschäftigten sollten sich an der Befragung beteiligen. 20 Prozent Rücklauf - eine Zahl, die Statistiker jubeln lässt. Wenn sie erreicht wird. Hier wurde sie sogar überboten. Mehr als 11 000 ausgefüllte Fragebögen trafen bei ver.di ein.

Auch das zweite Ziel war klar: Mindestens die Hälfte aller Beteiligten muss sich dafür entscheiden, dass ver.di für sie tätig wird. Es waren weit mehr: 96 Prozent wollen, dass ver.di für sie über Tarifverträge verhandelt. Für die Mehrheit ist eine bessere Bezahlung das wichtigste Tarifziel. Mehr als 80 Prozent wünschen sich einen Sockelbetrag, damit die unteren Einkommen stärker steigen. Im Schnitt wird eine Gehaltserhöhung von 3,5 bis vier Prozent gefordert - real, nicht als Ritual, an das keiner glaubt. Und nach der Entgeltrunde - auch das zeigen die Fragebögen - sind weitere Themen dran: die Ausbildungsvergütungen und die Übernahme der Azubis. Altersgerechtes Arbeiten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, flexible Arbeitszeiten. "Das sind klare Aufträge für uns", sagt Sylvi Krisch. "Und wenn wir bei der AOK stark genug werden, gehen wir das an."

Zurzeit werden alle über die Ergebnisse der Befragung informiert. Die ersten Regionalkonferenzen haben stattgefunden, allein in Leipzig sind 4 900 Interessierte zu einer Betriebsversammlung gekommen. In einigen Wochen könnten die Tarifverhandlungen beginnen. Klar ist: Die Rolle des Bittstellers wird nicht besetzt.

Jetzt geht es darum, vor dem Start eine positive Mitgliederentwicklung zu erreichen. 30 Prozent - statt derzeit 16 - sollen es dann im Laufe der Tarifauseinandersetzung werden. Ruth Maack aus dem ver.di-AOK-Ausschuss hält das für ein realistisches Ziel. "Aber wenn wir nicht bald mehr Leute gewinnen, müssen wir die Verhandlungen aussetzen", erklärt sie. Wer selbst nicht organsiert sei, könne nicht verlangen, dass andere etwas für ihn bewegen. Auf einer Personalversammlung in Niedersachsen hat sie als ver.di-Gast "eine Brandrede gehalten". Hinterher sagte ihr ein Kollege, wie nötig das war, denn: "Wir müssen wirklich den Hintern hochkriegen!" Dem, so Maack, sei doch nichts hinzuzufügen.

Sylvi Krisch ist von der Kehrtwende in der Mitgliederentwicklung überzeugt. "Und dann starten wir das Ding."

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