Von wegen ihr Kinderlein kommet ...

Weiche Kuscheltiere auf der Couch, ein Schnuller auf dem Tisch und Strampelanzüge griffbereit: In der Westerländer Wohnung der Familie Lorenzen ist die Ankunft des kleinen Leonard überall zu spüren. Er ist eines der letzten echten Inselkinder, geboren in der Asklepios Nordseeklinik auf Sylt. Doch so gemütlich und geborgen, wie Leonard es jetzt bei seinen Eltern Melanie und Lasse Lorenzen hat, so turbulent war sein Start ins Leben.

Die jungen Eltern sitzen nah beieinander auf ihrer großen, schokobraunen Sofalandschaft und erzählen, dass sie nach einer Schwangerschaft ohne Komplikationen mit einer ebenso entspannten Geburt gerechnet hatten. Doch es kommt ganz anders. In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 2013 wütet der Orkan Xaver mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 170 Stundenkilometern über der Insel. Auch im Kreißsaal der kleinen Inselklinik stehen Melanie unruhige Zeiten bevor. Nach 12 Stunden in den Wehen stellen die Ärzte einen Geburtsstillstand fest. Der kleine Leonard schafft es nicht allein. Ein Notkaiserschnitt rettet ihm und seiner Mutter das Leben.

Ohne die Geburtsstation auf Sylt wären Lorenzens heute vielleicht keine Familie

Während Melanie von der Geburt erzählt, hält sie immer wieder kurz inne, die Erinnerung fällt ihr nicht leicht. Ihr Mann sagt: "Ohne die Geburtsstation auf Sylt wäre ich heute wohl ein kinderloser Witwer." Dem Personal der Entbindungsstation ist Lasse auch heute noch sehr dankbar. Denn in der Orkannacht, in der sein Sohn geboren wird, ist die Insel vom Festland abgeschnitten. Weder Rettungshubschrauber noch Züge stehen für medizinische Notfalltransporte bereit. Hilfe von außerhalb ist nicht zu erwarten.

Von Wettbewerbsverzerrung ist die Rede

Doch genau auf solche Hilfe sind schwangere Sylterinnen in Notsituationen nun angewiesen: Seit dem 1. Januar 2014 ist die lebensrettende Geburtsstation der Nordseeklinik geschlossen. Und das, obwohl dem privaten Träger der Nordseeklinik, dem Asklepios Konzern, ein Versorgungsauftrag für Geburtshilfe des Landes Schleswig-Holstein vorliegt. Der Versorgungsauftrag berechtigt die Klinik zwar dazu, von ihr erbrachte Leistungen in der Geburtshilfe mit den Krankenkassen zu verrechnen. Ein Landeskrankenhausgesetz jedoch, auf dessen Grundlage Asklepios eventuell zu einer Fortsetzung der Geburtshilfe verpflichtet werden könnte, gibt es nicht. Den Ausstieg aus der Geburtshilfe auf Sylt begründete der Konzern - bei bisher rund 100 Geburten im Jahr - zunächst mit zu hohen Versicherungsprämien für die Gynäkologen, dann mit Wettbewerbsverzerrung und am Ende sogar mit Qualitätsmängeln auf der Geburtsstation.

Auf der zu Beginn des Jahres noch ruhigen Ferieninsel ist die Empörung über die undurchsichtige Argumentationskette groß. Die Insulaner sind entsetzt darüber, wie der private Klinikbetreiber die medizinische Grundversorgung auf Sylt beschneidet. Ob morgens beim Bäcker oder abends beim Bier, irgendwann landen die Gespräche bei der geschlossenen Geburtsstation. Denn: Die Schließung ist ein herber Verlust für Sylt.

Lars Schmidt setzt sich auf kommunaler Ebene für eine Entbindungsstation ein

Auch der fraktionsübergreifende Schulterschluss für den Erhalt der Geburtshilfe zeigt, wie wichtig der Inselpolitik das Thema ist. Lars Schmidt, Fraktionsvorsitzender der Wählergemeinschaft Inselliste zukunft.sylt, engagiert sich besonders. Er will den Erhalt der Geburtsstation erstreiten. Zuerst stellte er einen Antrag auf einstweilige Anordnung gegen das schleswig-holsteinische Ministerium für Soziales. Der Antrag scheitert. Doch Lars Schmidt und die Wählergemeinschaft haben ein Etappenziel erreicht: Sie haben Aufmerksamkeit für eine Problematik geschaffen, die nicht nur Sylt beschäftigt. "Die Frage ist ja: Welchen Anspruch haben Bürger auf medizinische Versorgung vor Ort?", sagt der Vater von drei Kindern. Denn mit der Privatisierung der Grundversorgung gehe in ganz Deutschland häufig auch eine Zentralisierung der medizinischen Versorgung einher. Und das hat jetzt Folgen für die Urlaubsinsel hoch oben im Norden.

Sylter Sommer ohne Schwangere

Die 33-jährige Lisa Reinhold aus Berlin verbringt schon seit über 10 Jahren ihre Ferien auf der Insel. Doch dieses Jahr wird sie schweren Herzens auf den Sylter Sommer verzichten. "Ich bin im fünften Monat schwanger und muss ehrlich sagen: Ich habe ein ziemlich ungutes Gefühl bei dem Gedanken, schwanger nach Sylt zu fahren", sagt die junge Frau, die ihr erstes Kind in eben diesem Sommer bekommen wird. Selbst schwangeren Sylterinnen wird empfohlen, die Insel zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin zu verlassen, um ihr Kind in einer größeren Klinik auf dem Festland zur Welt zu bringen. Dazu hat der Verband der Krankenkassen mit den Krankenhäusern in Niebüll und Flensburg ein sogenanntes "Boarding-Haus-Konzept" entwickelt. Die Kosten für eine Unterbringung in einem der beiden Boarding-Häuser werden für bis zu 14 Tage vor dem errechneten Geburtstermin übernommen. Nur: Babys halten sich selten an diese Stichtage.

Die Sylter Hebamme Anke Bertram weiß das nur zu gut. Sie muss ihren Terminkalender immer wieder umschreiben und flexibel sein, um die Schwangeren ihrem Bedarf entsprechend betreuen zu können. In einem trubeligen Westerländer Café erzählt die große dunkelhaarige Frau von 15 Kindern, die seit der Schließung der Sylter Geburtsstation schon auf dem Festland zur Welt gekommen sind. Die Kinder wurden in unterschiedlichen Krankenhäusern geboren - alle per Kaiserschnitt. Anke Bertram führt das auf den Stress zurück, dem die Frauen in den letzten Wochen vor der Geburt ausgesetzt waren. "Gerade Angst macht ja ganz klein, ganz eng, und für eine Entbindung muss ich halt ganz weit und ganz entspannt sein", sagt die Hebamme, die trotz des Lärms um sie herum viel Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt.

Hektik scheint ihr nichts anhaben zu können. Für die werdenden Mütter sei es schon belastend, sagt sie, dass es auf Sylt keinen wirklichen Notfallplan für die Versorgung von Schwangeren gibt. Nicht nur Unwetterlagen wie Orkan Xaver, sondern auch ein Notfall mitten in der Nacht stelle ein erhebliches Risiko dar. Die Gründe: In Schleswig-Holstein gibt es nur einen Rettungshubschrauber, der nach Einbruch der Dunkelheit Einsätze fliegen kann. Auch die ansonsten fast stündliche Zugverbindung auf das nahe Festland ist ab ein Uhr morgens für 3,5 Stunden unterbrochen. "Wir hören hier auf der Insel nur noch von Risiko und Notfall im Zusammenhang mit einer Entbindung. Da ist ja nichts Schönes mehr", sagt Anke Bertram. Sie glaubt, dass es auf der Insel bald mehr Hausgeburten geben wird. Aus der Not heraus. Viele Frauen können die Insel einfach nicht zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin verlassen, besonders wenn es schon Geschwisterkinder gibt, die versorgt werden müssen.

Christine Lunk kann sich wieder freuen. Tochter Lotta kam per Notkaiserschnitt in Hamburg auf die Welt. Jetzt steht den beiden auf Sylt Hebamme Anke Bertram zur Seite

Name: Lotta, Geburtsort: Hamburg, Notkaiserschnitt

Die Hebamme muss los. Im Ort hat sie einen Nachsorge-Termin bei der 35-jährigen Christine Lunk. Die beiden Frauen plaudern im Wickelzimmer, während aus Boxen im Wohnzimmer leise die Musik von Ina Müller tönt. Christine ist eine der ersten Insulanerinnen, die ihr Kind nicht mehr auf Sylt zur Welt bringen konnten. Ihre Tochter Lotta wurde am 30. Januar in Hamburg geboren. Obwohl die Krankenkassen einen Aufenthalt nur in den zwei erwähnten Boarding-Häusern finanzieren, entschied sich die Sylterin für eine Entbindung in Hamburg. Weder in Flensburg noch in Niebüll wollte Christine auf die Geburt warten, denn dort kennt sie niemanden, hat keinen sozialen Anschluss. Zehn Tage vor dem Stichtag begibt sie sich mit Ehemann Thies auf die etwa dreistündige Fahrt nach Hamburg. Dort findet Christine Unterschlupf bei einer Freundin. Das Krankenhaus, in dem sie ihr erstes Kind zur Welt bringen wird, ist nur fünf Minuten entfernt. Klingt eigentlich alles prima. Eigentlich. Denn mit jedem Tag des Wartens wird Christine ihr Geburtsexil bewusster. Die Freundin geht tagsüber arbeiten, sie vermisst Ehemann Thies, und "den Nestbau vorantreiben", wie sie sagt, kann sie in Hamburg auch nicht.

Und die kleine Lotta lässt sich Zeit. Insgesamt drei Wochen wohnt Christine bei ihrer Freundin. In dieser Zeit fährt Thies viermal von Sylt nach Hamburg und wieder zurück. In ständiger Sorge, den wichtigen Tag zu verpassen. Inzwischen hat Christine schon acht Tage übertragen. "Ich bin tatsächlich jede Nacht so gegen ein Uhr aufgewacht, und hab gedacht, die nächsten vier Stunden darf nichts passieren. Denn von ein Uhr nachts bis vier Uhr fährt ja nix von der Insel", sagt sie. Thies und Christine wollen die Geburt gerne gemeinsam erleben. Am 8. Tag über Termin bekommt Christine deshalb einen homöopathischen Wehencocktail. Der aber bekommt ihr und ihrer Tochter nicht. Die Geburt verläuft problematisch, die Wehen kommen in viel zu kurzen Abständen. Die Herztöne der kleinen Lotta sind nicht mehr zu hören, die Ärzte raten zu einem Notkaiserschnitt. "Ich bin fest davon überzeugt, dass wir, wenn wir auf Sylt gewesen wären, nicht so einen Stress gemacht hätten bei acht Tagen über Termin. Da hätten wir einfach abgewartet. Aber so ..." Es war ein Donnerstag, und Thies hätte am Montagmorgen um vier Uhr wieder nach Sylt fahren müssen. "Da waren wir einfach nicht mehr entspannt genug. Wir wollten wieder nach Hause. Ich hatte Heimweh", sagt Christine, heute wieder total entspannt.

Die zukünftigten Sylter müssen noch gerettet werden

Am vierten Tag nach der Geburt wird die Familie Lunk nach Hause geschickt. Mit ihrer frischen Kaiserschnittnarbe sitzt Christine fast vier Stunden im Auto. Um die Narbe herum bildet sich ein Bluterguss, der die vernähte Wunde wieder aufplatzen lässt. Für die Hebamme Anke Bertram ist das "eine der Spätfolgen davon, dass die Frauen aufs Festland müssen." Christine sagt: "Wenn es einem so schwer gemacht wird, überlegt man sich wirklich dreimal, ob man noch ein zweites Kind bekommt."

"Rettet die Sylter"

Dabei fehlen der Insel Sylt gerade die jungen Familien mit Kindern. Sie gehen, weil die Mieten in den wenigen Wohnungen, die als Dauerwohnraum angeboten werden, unverhältnismäßig teuer sind. Für Jugendliche fehlen Perspektiven. Und jetzt gibt es nicht einmal mehr eine Geburtsstation. All das führt zu Abwanderung von der Insel und großer Fluktuation. Das soziale Leben auf Sylt leidet darunter.

Lasse Lorenzen: glücklicher Vater dank Nothilfe auf der Insel bei der Geburt seines Sohnes

Lasse Lorenzen, der Vater vom kleinen Leonard, einem der letzten Sylter, engagiert sich seit 22 Jahren in der freiwilligen Feuerwehr in Westerland. Er beobachtet mit Bedauern, wie viele Sylter Vereine Nachwuchsprobleme haben. "Zu meiner Jugendzeit waren wir bei der Freiwilligen Feuerwehr in Westerland dreißig Jugendliche, jetzt sind es nur noch etwa die Hälfte." Gerade bei der Freiwilligen Feuerwehr sei dieser Nachwuchsmangel bedenklich, denn in der touristischen Hochsaison weilen bis zu 200.000 Menschen gleichzeitig auf der Insel. Dementsprechend steige auch die Zahl der Einsätze, die die Feuerwehren in dieser Zeit fahren. Und eine Berufsfeuerwehr gibt es auf Sylt nicht.

Doch die Sylterinnen und Sylter geben ihre Insel nicht auf. Der Kampf für echte Inselkinder geht jetzt erst so richtig los. In einer bunten lichtdurchfluteten Wohnküche in Hörnum, ganz unten im Süden der Insel, wurde im Februar die Initiative "Rettet die Sylter" gegründet. Die Initiatorin ist Jasmina Ben-Slimane, Sylterin und Mutter von zwei kleinen Kindern. "Wir wollen nicht nur meckern, sondern darüberhinaus aktiv werden", sagt sie, während ihre Tochter auf ihr rumturnt. "Ich mache das für meine Kinder. Denn wir möchten hier wohnen bleiben." Die zierliche Frau könnte ihr Ziel erreichen. Über 2700 Sylter/innen und Sylt-Gäste haben sich ihrer Aktion schon angeschlossen, eine kritische Masse für das als Luxusinsel verschriene Eiland.

Gerade Angst macht ja ganz klein, ganz eng, und für eine Entbindung muss ich halt ganz weit und ganz entspannt sein.


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Gerade Angst macht ja ganz klein, ganz eng, und für eine Entbindung muss ich halt ganz weit und ganz entspannt sein.