ver.di publik - Sie haben gemeinsam mit Ute Klammer für Ihre neue Studie mit zahlreichen Grundsicherungsempfänger/innen gesprochen. Gibt es gewisse Muster in den Lebensläufen, die zu Altersarmut führen?

Antonio Brettschneider - Jeder Fall ist ein Einzelfall. Aber wir konnten in der heutigen Seniorengeneration insgesamt fünf zentrale Risikogruppen ausmachen. Zum einen sind es familienorientierte Frauen mit langen Erwerbsunterbrechungen, überwiegend aus Westdeutschland. Die zweite Gruppe sind ehemalige Selbstständige, hier sind die Männer in der Mehrzahl. Die dritte Gruppe bilden Menschen mit einem Migrationshintergrund, also Gastarbeiter der ersten Generation, Spätaussiedler/innen und Kontingentflüchtlinge. Dann gibt es noch zwei kleinere Gruppen: Einmal die umbruchgeprägten Ostdeutschen, die nach der Wende arbeitslos geworden und es auch bis zum Rentenalter geblieben sind, und zum anderen Menschen, die besonders starke Brüche in ihrer Biografie haben. Dazu zählen wir Obdachlose oder zum Beispiel auch Menschen, die eine Haftstrafe absitzen mussten.

Antonio Brettschneider ist wissenschaftlicher Referent im Arbeitsbereich "Vorbeugende Sozialpolitik" am Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) in Düsseldorf. Das FGW wird vom nordrhein-westfälischen Wissenschaftsministerium gefördert. Gemeinsam mit Ute Klammer hat er jüngst das Buch Lebenswege in die Altersarmut herausgegeben (Duncker & Humblot Verlag, Berlin, 461 S., 89,90 €, ISBN 978-3428147908)

ver.di publik - Ist es jeweils nur ein Faktor oder treffen bei Bezieher/innen von Grundsicherung oft mehrere Faktoren zusammen?

Brettschneider - In der Regel treffen mehrere Faktoren zusammen. Viele Risiken sind strukturell bedingt, zum Beispiel bei Frauen, die sich bei ihrer Altersvorsorge stark auf den Ehemann verlassen haben, oder bei Selbstständigen, die nicht in der Rentenversicherung pflichtversichert gewesen sind. Gemeinsam ist allen Betroffenen, dass sie nur eine unvollständige Versicherungsbiografie in der gesetzlichen Rentenversicherung aufweisen.

ver.di publik - War es den Befragten vorher bewusst, dass ihre Rente so gering ausfallen wird?

Brettschneider - Den meisten war es durchaus vorher bewusst. Viele Befragte haben im letzten Drittel ihrer Erwerbsbiografie nicht mehr viel gearbeitet. Rund 80 Prozent unserer Interviewpartner/innen haben vor der Grundsicherung bereits Arbeitslosengeld II bezogen.

ver.di publik - Erlaubt die Grundsicherung ein Leben in Würde?

Brettschneider - Das ist ganz unterschiedlich. Einige haben sich mit ihrem Leben in der Grundsicherung ganz gut eingerichtet, auch wenn sie statistisch betrachtet einkommensarm sind. Vieles hängt von der individuellen Wohnsituation ab, bei der Wohnqualität und der wohnortnahen Versorgung gibt es erhebliche Unterschiede. Auch die familiäre Situation und das soziale Umfeld spielen eine große Rolle. Sind die Menschen einsam, oder erhalten sie regelmäßig Besuch von ihren Kindern? Gibt es einen Migrationshintergrund, sind es oft Sprachbarrieren, die den Alltag erschweren. Auch die Frage, wie man auf den Ämtern behandelt wird, trägt dazu bei, wie das eigene Leben mit der Grundsicherung empfunden wird.

ver.di publik - Aktuell beziehen gut drei Prozent der Senior/innen Grundsicherung im Alter. Wie wird sich diese Zahl in Zukunft entwickeln?

Brettschneider - Aktuell haben wir noch die Ruhe vor dem Sturm. Ab 2020 kommen jedoch die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge ins Rentenalter, und dann wird die Zahl derjenigen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, deutlich steigen. Der durchschnittliche Bruttobedarf der Grundsicherung liegt aktuell bei knapp 800 Euro netto. Um die als Rente zu bekommen, braucht man bereits heute schon rund 30 Arbeitsjahre in Vollzeit mit Durchschnittsverdienst. Aufgrund des sinkenden Rentenniveaus werden diese Anforderungen in den kommenden Jahrzehnten noch steigen. Mit Teilzeit und Niedriglohn werde ich das nicht schaffen, auch nicht mit unterbrochener, atypischer oder prekärer Beschäftigung, und diese Arbeitsformen haben seit den 1990er Jahren stark zugenommen. Die Betroffenen können natürlich auch nicht großartig privat vorsorgen.

ver.di publik - Welche Rolle spielt die betriebliche und private Altersvorsorge bei den von Ihnen befragten Grundsicherungsbezieher/innen?

Brettschneider - Kaum eine. Nur die ehemaligen Selbstständigen hatten statt der gesetzlichen Rente oftmals eine Lebensversicherung zur Altersvorsorge. Diese wurde jedoch meistens vorzeitig aufgelöst oder aufgrund einer Insolvenz gepfändet, und damit war die Altersvorsorge weg. Der Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat sich für die Betroffenen als folgenschwere Fehlentscheidung erwiesen. Aktuell beobachten wir leider, dass immer mehr kleine Selbstständige von der gesetzlichen Rentenversicherung nicht erfasst werden.

ver.di publik - Ist Grundsicherung ein probates Mittel gegen Altersarmut?

Brettschneider - In unserem gegliederten Sozialsystem ist Transferabhängigkeit eigentlich nicht als Dauerzustand, sondern nur als zeitlich begrenzte Ausnahme vorgesehen. Wer Grundsicherung im Alter bezieht, hat aber kaum noch Möglichkeiten, seine Hilfebedürftigkeit zu überwinden. Daher kann man nur sagen: Grundsicherung ist besser als nichts, aber es wäre natürlich besser, wenn sie von vornherein vermieden werden könnte.

ver.di publik - Bedeutet das, dass die gesetzliche Rentenversicherung wieder gestärkt werden müsste?

Brettschneider - Das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung als tragender Säule unseres Alterssicherungssystems ist zu stark gekürzt worden. Wenn die ganz normale Einzelhandelskauffrau, der Postbote oder die Krankenschwester auch nach einem langen Arbeitsleben nur noch eine Rente bekommt, die kaum über Sozialhilfeniveau liegt, ist die Legitimation des Systems gefährdet.

ver.di publik - Was schlagen Sie vor, was getan werden müsste?

Brettschneider - In unserem Buch haben wir ein umfangreiches, präventiv ausgerichtetes Programm zur Vermeidung von Altersarmut formuliert. Wir brauchen eine soziale Lebenslaufpolitik, die die Menschen in ihren Erwerbs- und Lebensläufen begleitet und sie sowohl dabei unterstützt als auch dazu anhält, aus eigener Kraft eine existenzsichernde Altersvorsorge aufzubauen. Dazu brauchen wir auf der einen Seite mehr Bildungsgerechtigkeit, genug Ausbildungsplätze und gute Arbeit; auf der anderen Seite bräuchten wir eine durchgängige Rentenversicherungspflicht über das gesamte Erwachsenenalter hinweg, nicht nur ab der ersten Arbeitsstunde, sondern auch für diejenigen, die gerade nicht erwerbstätig sind. Damit auch Geringverdiener/innen ausreichende Anwartschaften aufbauen können, sollten Arbeitgeber dazu verpflichtet werden, niedrige Stundenlöhne durch zusätzliche Beiträge zur Rentenversicherung aufzustocken.

ver.di publik - Was ist mit den heute 45-Jährigen, für die solche langfristig ausgelegten Maßnahmen zu spät kommen?

Brettschneider - Das Rentenniveau sollte zumindest auf dem heutigen Stand stabilisiert werden. Zudem brauchen wir für einen längeren Übergangszeitraum auch ein höheres Maß an Umverteilung in der Rentenversicherung. Beides zusammen ist natürlich nicht billig. Bei der Gegenfinanzierung muss daher sauber unterschieden werden: Der soziale Ausgleich speist sich aus Steuermitteln, für ein höheres Rentenniveau müsste jedoch auch der Rentenbeitragssatz im Zeitverlauf wieder deutlich ansteigen. Dies halte ich jedoch für vertretbar: Von der jetzigen Deckelung des Beitragssatzes auf 22 Prozent bis 2030 profitieren schließlich nicht die Jüngeren, wie oftmals behauptet wird, sondern in erster Linie die Arbeitgeber, da sie sich an der notwendigen Privatvorsorge der Arbeitnehmer nicht beteiligen müssen. Die Kosten des demografischen Wandels sollten aber nicht einseitig den Beschäftigten aufgebürdet, sondern von allen gemeinsam getragen werden.

Interview: Heike Langenberg


Grundsicherung im Alter

2003 wurde in Deutschland die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eingeführt. Mit dieser steuerfinanzierten Sozialleistung wollte der Gesetzgeber verdeckte Altersarmut abbauen. Reichen Rente und eventuelle weitere Einkommen nicht für den Lebensunterhalt, kann sie beantragt werden. Als Faustregel gilt nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung Bund, dass Rentner/innen, deren monatliches Einkommen unter 773 Euro liegt, prüfen lassen sollten, ob sie Anspruch auf Grundsicherung haben. Zuständig dafür sind die Sozialämter.

"Wenn die ganz normale Einzelhandelskauffrau, der Postbote oder die Krankenschwester auch nach einem langen Arbeitsleben nur noch eine Rente bekommt, die kaum über Sozialhilfeniveau liegt, ist die Legitimation des Systems gefährdet."

Antonio Brettschneider, Soziologe und Politikwissenschaftler