Ausgabe 05/2017
Deine Stimme zählt
Gehst du am 24. September 2017 den Bundestag wählen, wollten wir von ver.di-Jugendlichen wissen? Gerade weil die Wahlbeteiligung junger Menschen in Deutschland niedrig ist, rufen die ver.di-Jugendlichen auf, mitzustimmen. Sie haben sehr gute Gründe "Ich lade die Unions-Politiker ein,mal vier Wochen mit auf Zustellung zu kommen"
Isabell Senff, 29 Jahre alt, Zustellerin bei der Deutschen Post, freigestellte Betriebsrätin, Mitglied im Gesamtbetriebsrat und stellvertretende Vorsitzende der ver.di Jugend
"Ich lasse doch nicht andere entscheiden, wie ich leben will. Dafür leben wir in einer Demokratie, und das muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen. Denn für das allgemeine Wahlrecht wurde lange gekämpft, ein fahrlässiger Umgang mit dem Wahlrecht geht daher gar nicht.
Wenn man sich den Umgang mit Arbeitnehmerrechten anschaut, dann ist da in den letzten 10 bis 15 Jahren eine Menge falsch entschieden worden. Das ist der Tatsache geschuldet, dass Lobby-Verbände immer mehr Einfluss auf Politik nehmen und man sich als junger Mensch schon die Frage stellt, wer macht denn jetzt Politik? Ein Beispiel wären da ominöse Parteispenden, die erst verheimlicht werden, und wenn sie dann am Ende doch öffentlich werden, wird nett über die Sache hinweg gelächelt. Nun sind wir als Gewerkschaft ja auch Lobbyisten, und an sich ist das auch keine schlechte Sache. Sobald aber Lobbyismus dazu führt, dass Standards herabgesenkt und nur noch Interessen von Konzernen und des Kapitals durch-gesetzt werden, finde ich das gefährlich.
"Wir sind in Deutschland meilenweit entfernt von guter Ausbildung"
Von der zukünftigen Regierung erwarte ich, dass sie an Menschen in der Phase der Ausbildung, des Erwerbslebens und der Rente denkt. Denn eine gute Ausbildung ist ja der Grundstein für ein gutes späteres Leben. Und ich finde, wir sind in Deutschland meilenweit entfernt von einer guten Ausbildung. Viele Azubis müssen zum Beispiel bereits in der Ausbildung Überstunden machen oder werden aufgrund von Zeitmangel im Betrieb nicht gut ausgebildet. Wir brauchen eine Ausbildungsgarantie. Seit vielen Jahren gibt es einen Fachkräftemangel, während wir gleichzeitig unheimlich viele Jugendliche haben, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden. Außerdem brauchen wir ein modernes Berufsbildungsgesetz, das auch den digitalen Wandel berücksichtigt. Das letzte Reförmchen dieses Gesetzes gab es 2005. Da muss man dringend ran.
Dann sollten die sachgrundlosen Befristungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz unbedingt abgeschafft werden. Das sagt ja der Begriff selbst, es gibt keinen Grund dafür. Fast ein Viertel der unter 35-Jährigen arbeitet derzeit in prekären Arbeitsverhältnissen. Da muss sich echt etwas ändern, damit diese Leute nicht von Anfang an auf einem beruflichen und sozialen Abstellgleis stehen. Das ist echt völlig schräg und katastrophal!
Und dann zum Thema Rente. Es gibt keinen Generationenkonflikt, aber einen Verteilungskonflikt. Die Österreicher machen es ja vor, wir müssen weg von einer kapitalgedeckten zur gesetzlichen Rente. Und wenn Unions-Politiker jetzt von der Rente mit 70 sprechen, dann lade ich die gerne mal ein, vier Wochen mit auf Zustellung zu kommen. Mal sehen, was sie danach sagen."
"Ich erhoffe mir einen politischen Wechsel"
Christopher Schmidt, 28 Jahre alt, ist Sozialversicherungsfachangestellter und stellvertretender Personalrats-Vorsitzender bei einer Krankenversicherung
"Zur Bundestagswahl fällt mir als erstes meine Befürchtung ein, dass die AfD viele Prozente einfährt. Die Wahl wird eine gewisse Grundhaltung unseres Landes wiedergeben. Wir müssen uns fragen, ob wir die Individualität stärken wollen, indem wir Sozialabgaben und Steuern senken und jeder für sich selbst verantwortlich ist. Oder ob wir doch lieber die Solidarität stärken wollen und steigende Abgaben in Kauf nehmen, und zwar sowohl innerhalb Deutschlands als auch international.
Von der Bundestagswahl erhoffe ich mir einen politischen Wechsel. Eine rot-rot-grüne Koalition wäre meine Hoffnung, weil Schwarz-Gelb überhaupt keine Alternative für mich darstellt. Generell fühle ich mich von den großen Parteien aber sowieso nicht zu 100 Prozent vertreten.
"Es gibt immer wieder Dinge, die mich aufregen"
Die Themen, die mir am Herzen liegen, sind ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Dazu gehört für mich Klimaschutz, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, kostenlose Bildung, Erhöhung der sozialen Sicherheit, Rente und auch die paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich finde, man sollte darüber nachdenken, die private und die gesetzliche Krankenversicherung zu einer Bürgerversicherung zusammenzuführen. Außerdem sollte bei der Flüchtlingspolitik darauf geachtet werden, dass gute Bedingungen für eine Integration geschaffen werden und keine Ghettobildung gefördert wird. Genauso wichtig ist die Vermeidung von Fluchtursachen. Also dass unsere Regierung die Konflikte in den Herkunftsländern nicht noch weiter befeuert und dass sie keine wirtschaftliche Ausbeutung der Dritten Welt betreibt.
Grundsätzlich habe ich schon Vertrauen in die Politik, aber es gibt immer wieder Dinge, die mich aufregen, ich denke da zum Beispiel an Omnibusverfahren. Wenn also ein Gesetzespaket einfach durchgewunken wird und darin befinden sich einzelne Gesetzentwürfe, deren Inhalt die Abgeordneten nicht richtig kennen. Das passiert, weil die Abgeordneten sich entweder nicht ausreichend über einzelne Gesetze informiert haben, oder aber weil die Abgeordneten teilweise noch nicht mal wissen, was genau im Gesetzespaket steckt. Ich denke, dass etwas mehr Transparenz und wirklich gut aufgearbeitete Informationen der Politik gut tun würden. Und damit meine ich Informationen, die von jeder und jedem verstanden werden und auch einfach abzurufen sind. Dann würden sich vielleicht auch wieder mehr Leute für Politik interessieren."
"Die Rentenpolitik beschäftigt mich persönlich sehr"
Viktor Novoselsky, 28 Jahre alt, ist Anlagemechaniker und Personalrat beim Uniklinikum Essen
"Für mich persönlich tritt bei der Bundestagswahl keine Partei an, von der ich mich hundertprozentig vertreten fühle. Die Rentenpolitik beschäftigt mich persönlich sehr, und die CDU sagt schon jetzt ganz eindeutig, dass sie an dieser Stelle nichts ändern, das Rentenniveau weiter sinken wird. Das ist ein Sparen an der falschen Ecke. Eine solche Partei kann ich nicht wählen, weil ich weiß, dass es mir dann im Alter schlecht gehen wird. Ich möchte gerne eine Partei wählen, die eine andere Rentenpolitik vertritt und in ihrem Parteiprogramm etwas anderes verspricht. Ob diese Versprechen dann eingehalten werden, tja, das ist dann natürlich wieder eine andere Sache. Wir wählen zwar, aber auf die Dinge, die später passieren, haben wir keinen Einfluss mehr.
Die Politiker, und zwar die Politiker aller Parteien, mauscheln zu viel untereinander. Unter dieser fehlenden Transparenz leiden die Bürgerinnen und Bürger, und daher habe ich auch wenig Vertrauen in die Politik. Das heißt jetzt aber nicht, dass ich nicht an die Demokratie an sich glaube. Ich finde es nur schwierig, dass Menschen in Machtpositionen häufig zu vergessen scheinen, von wem und mit welchem Auftrag sie gewählt wurden.
Da ich im Uniklinikum arbeite, ist mir neben der Rente noch ein anderes Thema sehr wichtig. An den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen und auch an vielen anderen deutschen Kliniken gibt es die betrieblich-schulischen Auszubildenden in den Gesundheitsberufen. Diese Azubis bekommen keine Ausbildungsvergütung und verdienen somit kein Geld. Ich wünsche mir, dass die Politik aufwacht und merkt, dass es junge Menschen gibt, die die gleiche Arbeit verrichten wie alle anderen und dafür nicht bezahlt werden. An anderen Kliniken müssen die Azubis teilweise sogar noch Schulgeld für ihre Ausbildung zahlen. Aber ich bin der Meinung, dass dieser Missstand nicht deswegen richtig ist, weil es woanders noch schlimmer läuft. Es ist beides falsch. Die Partei, die ich wählen würde, sollte dieses Thema in ihrem Parteiprogramm stehen haben."
"Ich habe die Hoffnung, dass Politik etwas verändern kann,noch nicht verloren"
Kim Marquardt, 26 Jahre alt, ist ver.di-Gewerkschaftssekretärin für den Bereich Jugend in Essen
"Die Ehe für alle betrifft mich persönlich"
"Die anstehende Bundestagswahl wird jetzt meine dritte Wahl auf Bundesebene werden. Und mir ist es tatsächlich ein großes Anliegen, dass möglichst viele junge Leute wählen gehen. Das ist eigentlich das Wichtigste, was ich von der Wahl erwarte, noch bevor ich Ansprüche an die Politik formulieren kann. Ich habe das Gefühl, dass die Politik bei den jungen Leuten immer mehr in den Hintergrund rückt. Und das liegt nicht daran, dass die Jugend sich nicht für Politik interessiert, sondern daran, dass man einfach zu wenig Informationen bekommt, ob in der Schule oder auch in den Familien. Dadurch entsteht ein Gefühl der Unwissenheit. Und wenn man das Gefühl hat, sich in einer Sache nicht auszukennen, ist das vielleicht ein Grund, um nicht wählen zu gehen. Das finde ich fatal, denn junge Leute sollten etwas für ihre eigene Zukunft tun. Und das funktioniert eben auch über politische Wahlen. Denn ich persönlich habe schon Vertrauen in die Politik und ich habe die Hoffnung, dass Politik etwas verändern kann, noch nicht verloren.
Im derzeitigen Wahlkampf gibt es viele Themen, die ich wichtig finde, wie zum Beispiel die Rente und die drohende Altersarmut auch für unsere Generation. Man muss den sogenannten Rentensinkflug unbedingt stoppen. Eine Sache liegt mir ganz besonders am Herzen, weil sie mich auch persönlich betrifft: die Ehe für alle. Ich habe immer gesagt, ich heirate nicht, bevor das nicht geändert worden ist! Dass sie nun schon vor der Wahl durchgesetzt wurde, umso besser. Aber es gibt eben einige Punkte, warum ich am 24. September 2017 wählen gehe!"
"Ziel sollte ein höherer Mindestlohn sein"
Christoph Temming, 26 Jahre alt, ist Freiberufler im Bereich Bildung in Essen
"Meine Erfahrung mit Bundestagswahlen ist gemischt, denn es kommt natürlich nicht immer das dabei rum, was man sich erhofft hat. Aber dafür leben wir in einer Demokratie: um Kompromisse zu finden, und dabei zählt auch meine Stimme. Ich denke, wirklich grundlegende Änderungen in unserer Gesellschaft kann man nur mittels der Politik durchsetzen. Wir können zwar auf die Straße gehen und unsere Meinung äußern, aber letzten Endes braucht es eben ein Gesetzgebungsverfahren. Bevor man also gar nicht zur Wahl geht, finde ich es tatsächlich sinnvoller, einen ungültigen Wahlzettel abzugeben und damit eventuell deutlich zu machen, dass man sich durch die derzeitigen Parteien nicht repräsentiert fühlt.
"Die Schere zwischen Arm und Reich schließen"
Von der Politik nach der Bundestagswahl würde ich im Optimalfall erwarten, dass sie an vergangene Reformen wie die Agenda 2010 rangeht und diese ins Positive ändert, um prekäre Beschäftigung einzudämmen und den Mindestlohn wasserdichter zu machen. Ziel sollte also die Durchsetzung eins höheren Mindestlohns sein, von dem es keine Ausnahmen gibt. Und um die Schere zwischen Arm und Reich zumindest etwas zu schließen, fände ich eine Vermögenssteuer ziemlich sinnvoll. Dementsprechend werde ich dann auch meine Kreuze setzen."
"Die Bundesregierung lässt sich von den Global Playern treiben"
Maik Gössling, 29, Beamter in der Sachbearbeitung für Sozialleistungen
"Die neue Bundesregierung sollte sich um die Attraktivität des öffentlichen Dienstes kümmern, sodass man wieder auf Augenhöhe mit der Wirtschaft agieren kann. Wir brauchen ganz neue Ausbildungsberufe oder Ausbildungsgänge, um wieder näher an die Realität zu kommen. Es geht darum, dass wir Fachkräfte reinholen und auch behalten. Zum Beispiel in den Kitas. Da gibt es bisher ja nur die schulischen Ausbildungen. Da lassen sich sicherlich Konzepte entwickeln, zusammen mit der Gewerkschaft, damit die Arbeit dort wieder attraktiver wird.
Insgesamt sollte eine neue Bundesregierung mehr gestalten als nur zu reagieren. Zum Beispiel beim Thema Digitalisierung. Ich habe den Eindruck, dass sich die Bundesregierung von den Global Playern treiben lässt und immer zwei bis drei Schritte zurückliegt. Da müssen wir wieder auf Augenhöhe Politik gestalten, sonst fällt auch die Mitbestimmung in der Digitalisierung am Ende hinten runter.
Die Rentenpolitik ist ein weiteres Thema, dass die neue Regierung angehen sollte. Leider hat das für viele junge Menschen nicht den Stellenwert, den es haben müsste. Wir brauchen ein System, das eine auskömmliche Rente bietet, ohne sich groß damit auseinanderzusetzen und selbst vorzusorgen. Da ist ein umlagefinanziertes System, wie es die gesetzliche Rente ist, deutlich besser als dass Versicherungskonzerne, die sich ein Stück weit daran bereichern, das Geld am Kapitalmarkt anlegen, und am Ende ist es dann vielleicht einfach futsch. Wir müssen wieder weg von der Privatisierung der Altersversorgung.
Und dafür engagiere ich mich auch bei ver.di. Gewerkschaftsarbeit ist auch immer politisch. Ich glaube, das müssen viele erst wieder begreifen, auch in der Mitgliedschaft, dass es bei Gewerkschaftsarbeit eben um mehr geht als um Tarifpolitik."
PROTOKOLLE: Maren Skambraks (5), Stefan Zimmer (1)
Jede Stimme zählt
Die Beteiligung an Wahlen ist ein wichtiger Gradmesser für das politische Interesse der Bevölkerung. In Deutschland ist die Wahlbeteiligung im internationalen Vergleich hoch, auch wenn sie zwischen 1972 und 1990 bei den Bundestagswahlen von 91,1 auf 77,8 Prozent gesunken und auch seit 2002 kontinuierlich unter der 80-Prozent-Marke geblieben ist.
Das generelle Sinken der Wahlbeteiligung wird unter anderem damit erklärt, dass die Wählerinnen und Wähler ihre Stimme nicht abgeben, weil sie mit der Politik in Deutschland weitgehend zufrieden sind. Andere Erklärungen sehen aber auch eine wachsende Politikverdrossenheit als Ursache für die sinkende Wahlbeteiligung.
Im Durchschnitt aller Bundestagswahlen von 1953 bis 2009 waren die 60- bis unter 70-Jährigen und die 50- bis unter 60-Jährigen die Altersgruppen mit der höchsten Wahlbeteiligung. Am niedrigsten war die Wahlbeteiligung bei den 21- bis unter 25-Jährigen und - seit der Bundestagswahl 1972 (seit der Einführung des Wahlrechts ab 18 Jahren) - bei den unter 21-Jährigen.
Je oller, desto doller
Kurzum: Die Wahlbeteiligung ist umso höher, je älter die Altersgruppe ist. Auch die letzte Bundestagswahl 2013 wich nicht von diesem Trend ab. Laut der Wahlstatistik des Bundeswahlleiters hatte die Altersgruppe der 60- bis unter 70-Jährigen mit 79,8 Prozent die höchste Wahlbeteiligung. Bei den 21- bis unter 25-Jährigen war die Wahlbeteiligung am niedrigsten (60,3 Prozent). Auch den unter 21-Jährigen (64,2 Prozent) lag die Wahlbeteiligung noch deutlich unter dem Durchschnitt.
Am 24. September 2017 wird wieder gewählt. Jede Stimme zählt, auch deine.
"Wir sind in Deutschland meilenweit entfernt von guter Ausbildung"
"Es gibt immer wieder Dinge, die mich aufregen"
"Die Ehe für alle betrifft mich persönlich"
"Die Schere zwischen Arm und Reich schließen"