Nina Rüter sorgt dafür, dass Menschen nach Operationen oder Schlaganfällen wieder auf die Beine kommen

Von Thomas Becker

Berlin, im April: Nina Rüter ist extra aus Essen angereist, und da sitzt sie nun neben Gewerkschaftssekretären und Arbeitgebern, eine angehende Physiotherapeutin, 21 Jahre alt, die eine klare Meinung hat. Ihre Stimme soll bei den Tarifverhandlungen der Länder für den öffentlichen Dienst gehört werden. Nicht, dass sie sich danach gedrängt hätte; die jungen ver.di-Mitglieder des Universitätsklinikums Essen haben sie vorgeschlagen, damit sie für all jene spricht, die kein Geld während ihrer betrieblichschulischen Ausbildung bekommen, darunter Logopäden, Ergotherapeuten, Medizinisch-technische Assistenten, Masseure und Diätassistenten.

Dass viele ihrer Kolleginnen und Kollegen am Wochenende und abends Nebenjobs haben, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, wird sie berichten. Dass in anderen Ausbildungsberufen im Gesundheitsbereich sehr wohl bezahlt werde, für angehende Krankenpfleger etwa. Und dass sie selbst 1.600 Pflichtstunden praktische Arbeit während ihrer dreijährigen Ausbildung leiste - unbezahlt. "Das ist ungerecht", wird Nina Rüter später sagen. Es klingt völlig unaufgeregt, wie sie das sagt. Wenn sie mit Freunden, Patienten oder auch privat mit Funktionären spreche, würden ihr alle zustimmen.

Goniometer in der Brusttasche, Skelett an der Wand

Zwei Monate sind seit dem Treffen in Berlin vergangen. Nina Rüter hat ihre Morgenschicht am Uniklinikum in Essen beendet. Sie hat ihre langen blonden Haare zum Zopf gebunden und trägt die Berufskleidung einer Physiotherapeutin: ein blaues T-Shirt, an dem eine Uhr hängt, um den Puls von Patienten zu messen. Aus der Brusttasche des Shirts lugt ein Goniometer hervor, mit dem sie Winkelmaße an Armen und Beinen nimmt. Jetzt aber macht die junge Frau in ihrer Pause erst einmal einen Abstecher in den Raum der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV), der sie seit Mai als gewähltes Mitglied angehört.

Überbleibsel vergangener Protestaktionen sind im Raum zu sehen: An der Wand hängt ein Skelett, mit dem schulische Auszubildende zum Auftakt der Tarifverhandlungen auf Straßen und klinikintern demonstriert haben. "Blank bis auf die Knochen" lautete das Motto. "Ihr könnt uns mal ... vergüten" oder "Gemeinsam stark ... für fairne$$" haben die Auszubildenden auf Banner geschrieben.

Dass sie sich engagiert, sagt Nina Rüter, habe auch mit der "megaguten Arbeit" der vorherigen JAV zu tun. Die Universitätskliniken in Essen und Düsseldorf gelten als Keimzellen, von der aus die Anliegen der schulischen Auszubildenden mehr und mehr in die Öffentlichkeit getragen wurden. Mittlerweile ist das Thema in lokalen und regionalen Medien präsent. Auch deswegen ist es gelungen, es auf die Tagesordnung bei den Tarifverhandlungen der Länder zu setzen. Würden die betrieblich-schulischen Auszubildenden in den Tarifvertrag aufgenommen - was bisher eben nicht der Fall ist, weil sie offiziell als "Schüler" gelten - würden sie erstmals in Deutschland eine Vergütung erhalten. Bei ver.di ist von einer "historischen" Wegmarke die Rede.

Die Verhandlungen in Berlin seien "beeindruckend" gewesen, erzählt Nina Rüter mit einem flüchtigen Lachen: "So etwas erlebt man ja nicht alle Tage." Am Tisch saßen Direktoren aus Universitätskliniken und der niedersächsische Finanzminister als Wortführer für die Arbeitgeberseite. Gebetsmühlenartig hätten sie ein Argument wiederholt: dass eine Bezahlung von betrieblich-schulischen Auszubildenden nur möglich sei, wenn die Krankenkassen das refinanzierten. Nina Rüter schiebt ihren Pony ein wenig beiseite und nimmt den Aktenordner mit Gesetzestexten zur Hand, der vor ihr liegt. "Wir vertreten die Ansicht, dass die Refinanzierung der Ausbildungskosten der Kliniken von den Krankenkassen grundsätzlich gesetzlich vorgesehen ist." Dieser Argumentation hat sich auch der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske angeschlossen, der sich als Verhandlungsführer für die Belange der Auszubildenden eingesetzt hat.

Fünf Wochen in der Inneren, fünf in der Gynäkologie

Sie habe in Berlin immerhin mit manchen Irrtümern aufräumen können, sagt Nina Rüter. Ein Universitätsdirektor habe etwa behauptet, dass sich schulische Auszubildende doch nur mit theoretischen Inhalten beschäftigen und erst im dritten Ausbildungsjahr und vornehmlich als Praktikanten im Einsatz seien, stets angeleitet von Fachpersonal. "Das stimmt aber überhaupt nicht", erwidert Nina Rüter, derzeit im zweiten Ausbildungsjahr. Sie wirkt wenig aufbrausend, eher aufklärerisch, sehr verbindlich. Für sie scheint außer Frage zu stehen, dass sich irgendwann durchsetzt, was gerecht ist. "Schon ein halbes Jahr nach Ausbildungsbeginn arbeiten wir auf Station und führen selbstständig Therapien durch", sagt sie. In den vergangenen Monaten war sie je fünf Wochen in der Inneren Medizin sowie der Gynäkologie stationiert und hat Unfallopfer nach Operationen, Mütter nach Geburten und Frauen nach Krebserkrankungen therapiert. Derzeit arbeitet sie in der sogenannten Stroke Unit der Neurologie, eine Spezialstation zur Erstbehandlung von Schlaganfallpatienten. Dass ein Journalist ihr dabei über die Schulter schaut, ist seitens des Uniklinikums Essen unerwünscht und offensichtlich zu heikel vor dem Hintergrund der Tarifverhandlungen.

Also erzählt Nina Rüter, wie sie die Tage verbringt. "Allein heute Vormittag habe ich vier Schlaganfallpatienten behandelt." In den Therapiesitzungen habe sie mit ihnen beispielsweise erarbeitet, wie sie sich aus der Liegeposition an der Bettkante aufrichten können. "So können sie Sekret abhusten und bekommen die Lunge wieder frei - ein wichtiger Schritt zur Mobilisierung." Ein fest angestellter Physiotherapeut habe am Vormittag die gleiche Arbeit gemacht, im Nebenraum, mit anderen Patienten.

Bis zu 2.100 Stunden und mehr arbeiten Azubis umsonst

Es ist davon auszugehen, dass seitens der Kliniken die Leistungen der betrieblich-schulischen Auszubildenden mit den Krankenkassen abgerechnet werden, sagt Mario Gembus, Jugendsekretär für den Bereich Gesundheit und Soziales beim ver.di-Bundesvorstand. "Es wäre nur fair, wenn die Auszubildenden wenigstens ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten könnten und nicht als unentgeltliche Arbeitskräfte ausgenutzt werden." Immerhin müssen Medizinisch-technische Laborassistenten 1.230 praktische Pflichtstunden während ihrer dreijährigen Ausbildung ableisten, bei Diätassistenten sind es 1.400 Stunden, Medizinisch-technische-Radiologieassistenten kommen auf 1.600 Stunden, den Spitzenwert erreichen Logopäden mit 2.100 Stunden. In der Praxis seien die Stundenwerte oft sogar noch höher. "Dafür sehen die Auszubildenden aber keinen Cent", sagt Gembus.

Im Gegenteil: An vielen privaten Schulen müssen die Auszubildenden sogar ein monatliches Schulgeld bezahlen. Zwar ist das an den Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen nicht der Fall, aber auch hier müssen Auszubildende Geld für eigene Schulbücher und Heimfahrten selbst aufbringen.

Dass eine Vergütung auch ohne unmittelbare Refinanzierung der Krankenkassen möglich ist, zeigen die beiden Ausbildungsberufe der Operationstechnischen und Anästhesietechnischen Assistenten, sagt Mario Gembus: "Das sind Berufe, die bisher noch nicht einmal bundeseinheitlich in einem Gesetz geregelt worden sind und dennoch 2017 ohne Beanstandung sofort in den Geltungsbereich des Tarifvertrags für die Länder aufgenommen wurden." Auszubildende in diesen Berufen verdienen demnach 1.025 Euro im ersten Lehrjahr, ohne dass die Krankenkassen das refinanzierten. Wie das? Gembus erwähnt den Nutzwert der Kliniken. "Bereits ab der Ausbildung stehen etwa die Operationstechnischen Assistenten mit am OP-Tisch, also da, wo Kliniken in der Regel das meiste Geld verdienen."

Von der Leistungssportlerin zur Physiotherapeutin

Für Nina Rüter klingt all das befremdlich und wie eine Abwertung ihrer Arbeit. "Aber es ist doch auch wichtig, Menschen nach Operationen umfassend zu behandeln, damit sie wieder auf die Beine und zu Kräften kommen", sagt sie. Sie, die vor ihrer Ausbildung Leistungssport als Triathletin und Schwimmerin betrieben hat, habe sich für die Physiotherapie entschieden, damit Menschen ihre Selbstständigkeit wiedererlangen können. "Diese Arbeit sollte wertgeschätzt und honoriert werden - auch bei Auszubildenden."

Wie genau es jetzt weitergeht, hängt auch von den Tarifverhandlungen ab. Da die Gespräche im April ergebnislos verlaufen sind, haben die Tarifparteien einen Brief an Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, CDU, geschrieben. Es geht darin vor allem darum, mit den Beteiligten an einen Tisch zu kommen: Krankenkassen, Krankenhausgesellschaft, Arbeitgeber und ver.di. Es geht um die Klärung der Frage, ob sich aus dem Krankenhausfinanzierungsgesetz eine Verpflichtung ableitet, dass betrieblich-schulische Auszubildende eine Vergütung erhalten. "So ist unsere Leseart des Gesetzes", sagt Nina Rüter. "Und wir möchten das gerne bestätigt sehen."

Für sie gibt es letztlich nur eine Option: "Dass wir endlich bezahlt werden." Schon jetzt herrsche ein Fachkräftemangel in vielen Gesundheitsberufen. Sie selbst habe schon in Erwägung gezogen, ins Ausland zu ziehen, wo ihre Ausbildung vergütet wird und Physiotherapeuten deutlich besser gestellt sind. "Aber das wäre ja wie Aufgeben", sagt sie.

Das Telefon klingelt. Ihre Praxisanleiterin aus der Neurologie ist am Apparat. Ja, sie mache sich gleich auf den Weg, antwortet die angehende Physiotherapeutin. Und schon ist sie durch die Tür, um einen weiteren Schlaganfallpatienten zu behandeln.