Wenn über Einwanderung debattiert wird, dann geht es weder um "Randgruppen" noch um ein Randthema, sondern um ein zentrales Moment in der Gestaltung der Gesellschaft

Ulm, 1966: Gabriella und Martino Tinelli (vorn im Bild) aus Alberobello in Italien sind nach ihrer Hochzeit nach Deutschland gezogen, um hier zu arbeiten

Deutschland, das sind "wir alle", hat Angela Merkel in ihrer jüngsten Regierungserklärung betont und zugleich der Politik ins Stammbuch geschrieben, sie müsse als "übergeordnete Aufgabe" den Zusammenhalt im Land vergrößern - und zwar den "Zusammenhalt aller, die dauerhaft in Deutschland leben". Ein Blick in den Koalitionsvertrag der neuen Regierung lässt allerdings schwere Zweifel aufkommen, ob die Worte der Kanzlerin von ihrem eigenen Team verstanden worden sind. Wenn sich gerade mal fünf Seiten von 185 mit der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft befassen, dann stellt sich doch die Frage, ob die Politik eine realistische Vorstellung davon hat, wer eigentlich "dauerhaft" in Deutschland lebt.

Die Migration hat ja längst stattgefunden

Im Bereich der Soziologie wird in letzter Zeit betont, die Gesellschaft sei heutzutage "postmigrantisch". Damit sind zwei Dinge gemeint. Im Hinblick auf die Demographie sagt dieser Begriff schlicht: Wir sind "nach der Migration", denn sie hat ja längst stattgefunden. Zwischen 1965 und 2014 sind laut den Daten des Statistischen Bundesamtes 71 Millionen Menschen entweder nach Deutschland gezogen oder haben das Land verlassen - da wirken plötzlich selbst die großen Fluchtbewegungen von 2015 und 2016 vergleichsweise normal. Bei den Untersechsjährigen sind die Kinder mit Migrationshintergrund in allen Städten der alten Bundesrepublik in der Mehrheit - mehr als zwei Drittel sind es in den Wirtschaftsmetropolen Frankfurt/Main und Stuttgart.

Die andere Verständnisweise des Begriffes "postmigrantisch" begreift das "post-⁠" in Bezug auf die Migration ähnlich wie das "post-" in "postmodern": Wir leben heute alle mit den Konsequenzen der Migration; es gibt keinen Bereich oder Prozess in der Gesellschaft mehr, der nicht von Migration auf die eine oder andere Weise beeinflusst wurde. Im Alltagsleben, bei den Einkaufsmöglichkeiten, in den Vereinen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, im Sozial- oder Gesundheitswesen, auf der politischen Agenda oder in den anhaltenden Debatten über Bildung - überall finden sich die Spuren der Migration. Wenn über Einwanderung debattiert wird, dann geht es weder um "Randgruppen" noch um ein Randthema, wie viele Bürger und Politiker immer noch glauben, sondern um ein zentrales Moment in die Gestaltung der Gesellschaft.

Ob wir "es schaffen", hat also auch damit zu tun, ob wir die Perspektive ändern können: Weg von einer Idee der "Integration", in der eine andere Herkunft immer schon als Defizit betrachtet wird, hin zu der Frage, ob unser aller Institutionen, Organisationen und Einrichtungen "fit" für die reale Vielheit der Gesellschaft sind. Anstatt im Bildungsbereich alle paar Jahre wieder über die "Quereinsteiger" zu klagen, wäre es an der Zeit, alle Kinder als Quereinsteiger zu betrachten. Spracherwerb muss keineswegs in "Willkommens-⁠" oder "Deutschklassen" ausgelagert werden, sondern kann wie in Schweden oder Kanada im Regelunterricht stattfinden. Das setzt voraus, dass über die Qualifikationen des Personals, die Aufstellung der Lehrpläne und auch die Ausstattung von Schulen noch einmal ernsthaft nachgedacht wird.

Ohne Angst vor Veränderung

Die Bildungseinrichtungen ebenso wie der Gesundheitsbereich oder die Verwaltungen brauchen einen "Vielheitsplan", um sich auf die tatsächliche Bevölkerung und ihre Unterschiedlichkeit einzustellen. Dabei muss auch über Diskriminierung gesprochen werden. Der Skandal um die NSU-Mordserie hat gezeigt, dass es in den deutschen Sicherheitsbehörden offenbar Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen gibt, die den Migrationshintergrund von Personen sofort mit Straffälligkeit und Kriminalität in Verbindung bringen. Die Polizei hat in jedem der Fälle Hunderte von Personen befragt, aber nur auf der Suche nach einem Zusammenhang mit organisierter Kriminalität. Ein rechtsextremer Hintergrund dagegen wurde nicht in Erwägung gezogen. Was hat die Polizei gelernt aus dieser krassen Verschwendung von Ressourcen?

Wie man es nicht machen sollte

Notwendig wäre eine konsequente Organisationsentwicklung im Hinblick auf Vielheit. Wenn die Polizei Situationen realistischer einschätzen kann und effizienter arbeitet, kommt das am Ende uns allen zugute. "Vielheitspläne" wollen gut überdacht und langfristig angelegt sein. Die von politischer Seite ziemlich dilettantisch vorbereitete Einführung von Inklusion an den Schulen war oftmals ein Beispiel dafür, wie man es eben nicht machen sollte. Wer jemals bei richtig gemachter Inklusion in einer Klasse zugeschaut hat, der weiß, welche Energien, welche Kreativität und welche Innovationskraft sie freisetzen kann. Anstatt ständig Angst vor Veränderung zu haben, sollten wir alle sie selbstbewusst in die Hand nehmen.