Ibrahim Arslan klärt über rassistische Gewalt auf. Er, der selbst Opfer eines Brandanschlags ist, will die Sicht der Opfer stärken

Ibrahim Arslan verlor 1992 in Mölln durch einen rassistisch motivierten Brandanschlag seine Großmutter, seine Schwester und seine Cousine

Von Gudrun Giese

Ibrahim Arslan hat die besondere Gabe, Menschen zusammenzubringen, die sich bis dahin gar nicht kannten, die aber durch ein bestimmtes Ereignis unsichtbar miteinander verbunden sind: Der 33-jährige Hamburger schafft es mit seiner vorbehaltlosen Art, auf Menschen zuzugehen, Verbindungen zwischen unterschiedlichen Opfern rassistischer Gewalt herzustellen und sie zu motivieren, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.

Ein Opfer rassistischer Gewalt ist auch Ibrahim Arslan selbst geworden - und mit ihm seine ganze Familie. In der Nacht vom 22. auf den 23. November 1992 steckten zwei Nazis das Wohnhaus der Arslans in der Mühlenstraße im schleswig-holsteinischen Mölln an. Zuvor hatten sie bereits ein Haus in der Ravensburger Straße angezündet. Während die dortigen Bewohner alle überlebten, allerdings mit zum Teil schweren Verletzungen, starben in der Mühlenstraße durch die rassistisch motivierte Brandstiftung Ibrahim Arslans Großmutter Bahide, damals 51 Jahre alt, seine Schwester Yeliz, 10, und seine Cousine Ayse Yilmaz, 14.

Gegen jede Vernunft

"Meine Großmutter hat mir noch das Leben gerettet, hat mich in feuchte Tücher gepackt und in die Küche gebracht", sagt Ibrahim Arslan. Der damals Siebenjährige erinnert sich nur bruchstückhaft an jene Schreckensnacht, in der sich seine Mutter und seine Tante beim Sprung aus dem Fenster schwer verletzten und für die gesamte Familie das bisherige Leben schlagartig zu Bruch ging. "Meine Großmutter war in den siebziger Jahren als Gastarbeiterin allein nach Deutschland gekommen. Eine starke Frau, bis zu ihrem gewaltsamen Tod war sie unser Familienoberhaupt." Wenn er von damals erzählt, merkt man seiner Stimme auch heute noch an, wie schockierend der Anschlag für ihn war.

Die Täter, die sich ihrer feigen Brandanschläge mit "Heil-Hitler"-Gegröle in anschließenden Anrufen bei der Polizei brüsteten, waren zwar schnell gefasst. Familie Arslan wurde trotzdem von manchen Möllnern beschuldigt, selbst auch Schuld zu sein. "Gerade in der Generation der damals Älteren war die Vorstellung weit verbreitet, dass alle Ausländer kriminell seien", sagt Ibrahim Arslan. Sein Vater geriet gegen jede Vernunft sogar unter Verdacht: Er war nicht zu Hause, sondern zu Besuch bei einem Freund in Hamburg.

Ibrahim Arslan ist an diesem kalten Märztag, das kurdische Newroz-Fest zum Frühjahrsbeginn steht auf dem Kalender, in die ver.di-Bundeszentrale gekommen. Ein mittelgroßer Mann in weißem Hemd, der sein Publikum bald schon in seinen Bann zieht - einfach, weil er eine starke Ausstrahlung hat, wenn er spricht. Er erzählt auch von der Schreckensnacht und ihren Folgen, aber mehr noch über das, was er in den zurückliegenden Jahren auf die Beine gestellt hat. Irgendwann sei ihm nämlich klargeworden, dass sein Erlebnis auch eine Art Verpflichtung ist. "Wenn ich will, dass die Öffentlichkeit endlich mehr auf die Opfer eingeht und sich für ihre Sicht auf die Tat und die Folgen interessiert, dann muss ich mich hinausbewegen und über das Geschehene berichten."

"Es gibt keinen akzeptablen Rassismus"

Und das tut Ibrahim Arslan, besonders gerne in Schulklassen, weil er dort auf junge Menschen trifft, die zuvor meist noch nie die Opferperspektive eingenommen haben. "Manche merken erst durch meine Schilderungen, dass sie selbst ebenfalls schon Opfer von Alltagsrassismus geworden sind." Doch gerade die verbreiteten abwertenden und diskriminierenden Bemerkungen auf Schulhöfen oder Sportplätzen, auf der Straße oder in den sozialen Medien würden allzu oft hingenommen und heruntergespielt. "Es gibt aber keinen akzeptablen Rassismus", sagt Ibrahim Arslan.

Die Ereignisse in den Mittelpunkt rücken

Ermutigt zu seinem Schritt in die Öffentlichkeit haben ihn Holocaust-Überlebende. Ohne sie gäbe es nicht die vielschichtigen Informationen über die Judenverfolgung, über Alltagsrassismus in der Nazizeit, über Deportationen und die Massenmorde in den Konzentrationslagern. "Dass viele dieser Überlebenden nach Deutschland zurückgekehrt sind, um hier ihre Sicht auf die damaligen Ereignisse in den Mittelpunkt zu rücken, war außerordentlich wichtig. Und das müssen auch wir Überlebende rassistischer Übergriffe tun."

Redet er in Klassenzimmern oder bei Veranstaltungen wie der im ver.di-Haus über die Folgen rassistischer Anschläge, über die verbreitete Politik des Wegschauens und Abschwächens, aber auch über die Chancen der Opfer-Vernetzung, dann geht es ihm gut und er spürt keine Symptome. Denn natürlich hat der Angriff jener Novembernacht 1992 dauerhafte Spuren in seiner Psyche hinterlassen. "Alle aus meiner Familie, die den Anschlag überlebt haben, leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen. Ich habe manchmal Flash-backs." Lange Zeit litt er an einem Dauerhusten, der ihn mittlerweile seltener quält. "Es war ein unglaublich wichtiger Schritt für mich, konsequent darauf zu beharren, dass endlich die Opfer rassistischer Angriffe im Mittelpunkt stehen, nicht die Täter." So sei es typisch, dass bei seinen Schulbesuchen die Jugendlichen zwar spontan die Namen der bisher bekannten NSU-Täter aufzählen könnten, aber nicht die der Opfer.

"Manche merken erst durch meine Schilderungen, dass sie selbst ebenfalls schon Opfer von Alltagsrassismus geworden sind"

Ibrahim Arslan hat Angehörige der vom NSU ermordeten Menschen aufgesucht, er hat Kontakt zur Familie des im April 2012 in Berlin mutmaßlich von einem Nazi umgebrachten Burak Bektas, und er ermutigt sie alle, sich ebenfalls öffentlich Gehör zu verschaffen und damit die Opferperspektive zu stärken. Und er stellt auch dieses klar: "Wer nicht eingreift bei einer rassistischen Tat, der wird zum Mittäter." Ebenso machen sich die Politik und viele Behörden aus seiner Sicht fortgesetzt mitschuldig, weil sie nach wie vor Menschen unterschiedlich behandeln - je nach Herkunft, Religion, äußerer Erscheinung -, rassistische Übergriffe regelmäßig als Einzelfälle herunterspielen und nicht einmal in der Lage sind, nach Gewalttaten unbürokratisch und schnell den Opfern materiell zu helfen.

Eigentlich, so stellt der 33-Jährige ernüchtert fest, habe sich seit 1992 in der Politik und der Mehrheitsgesellschaft nichts zum Besseren verändert. Zu Beginn der 90 er Jahre waren rassistische Brandstifter und Gewalttäter nicht nur in Mölln, sondern in Rostock-Lichtenhagen, in Hoyerswerda, in Solingen unterwegs, weil angeblich das "Boot voll war". Die Politik knickte damals wie heute vor den vermeintlich verbreiteten "Überfremdungsängsten" ein und verwässerte mit dem sogenannten Asylkompromiss den so wichtigen Grundrechtsartikel 16. Heute, so findet Ibrahim Arslan, versuche der frisch ernannte Bundesinnenminister Horst Seehofer, CSU, mit der Bemerkung, der Islam gehöre nicht zu Deutschland, im ganz rechten Spektrum zu fischen. "Eigentlich wäre es lächerlich, wenn es nicht so schlimme Auswirkungen hätte. Wir leben in einer Gesellschaft der Vielen, zu der verschiedene Religionen, Kulturen und Sprachen gehören, die zusammengenommen ein riesiger Gewinn sind!"

Die Politik knickt ein

Trotzdem schöpft der junge Familienvater auch immer wieder Hoffnung aus seinen Erfahrungen. "Meine Kinder gehören zur vierten Generation, und sie sprechen besser Deutsch als Türkisch." Er hat für sie und alle hier Geborenen den schönen Begriff "Direktdeutsche" geprägt. Und sein Einsatz bei den Schulgesprächen soll schließlich dazu beitragen, dass endlich eine Generation heranwächst, für die Nationalismus, Rassismus und jede Art von Ausgrenzung gar keine Optionen mehr sind. "Es wäre aber gut, wenn sich noch sehr viel mehr Opfer von rassistischen Übergriffen bereitfinden könnten, Aufklärungs- und Beratungsarbeit zu übernehmen", sagt Ibrahim Arslan.

Nach dem Abend in der Berliner ver.di-Zentrale würden sich wohl viele der Zuhörer wünschen, dass er selbst diese Aufgaben hauptberuflich übernehmen könnte. Doch bisher verdient er seinen Lebensunterhalt als Parkraummanager, das heißt, er verteilt Strafzettel fürs Falschparken, in Hamburg.

"Es gibt keinen akzeptablen Rassismus"

"Manche merken erst durch meine Schilderungen, dass sie selbst ebenfalls schon Opfer von Alltagsrassismus geworden sind"