Ausgabe 04/2018
„Lasst die Leute schlafen, wenn sie müde sind!“
Schlafforscher Ingo Fietze
ver.di publik: Wie lange sollte ein Mensch täglich schlafen?Fietze: Wenn man gesund leben will, dann sollte man täglich 7 bis 7,5 Stunden schlafen oder zumindest am Wochenende den fehlenden Schlaf nachholen.
ver.di publik: Was macht Schlafmangel mit einem Menschen?Fietze: Schlechter Schlaf geht aufs Gemüt. Drei Nächte schlecht geschlafen, dann ist man schon fix und alle. Man ist geistig nicht mehr fit und kann eigentlich nicht mehr arbeiten. Wenn man sich vorstellt, dass Leute über Wochen, Monate, gar Jahre leiden – das geht dann an die Substanz, man ist kognitiv und später auch körperlich nicht mehr leistungsfähig. Nach heutigem wissenschaftlichen Stand sagt man, dass ab dem 5. Jahr einer nicht behandelten Schlafstörung das Risiko von Depression, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankung oder Krebs beginnt.
ver.di publik: Durch Schlafdefizite steigt auch das Unfallrisiko.Fietze: 20 Prozent aller Unfälle haben mit Müdigkeit zu tun. Müdigkeit im Straßenverkehr ist ein großes Thema, weshalb es auch eine Anlage in der Führerscheinverordnung gibt, dass man müde kein Auto fahren darf. Die Unfälle während der Arbeit und mehr noch im Haushalt haben vornehmlich etwas mit Unaufmerksamkeit als Folge von Müdigkeit zu tun. Müde Menschen sind eher gefährdet, sich zu Hause mit dem Messer zu schneiden oder auf der Arbeit einen falschen Knopf zu drücken oder eine falsche Entscheidung zu fällen als Ausgeschlafene.
ver.di publik: Ist der heutige Medienkonsum ein Risikofaktor?Fietze:Der Medienkonsum wird zum Problem, wenn es um Interaktion geht, wenn auf das Handy oder Tablet Nachrichten kommen, auf die ich warte oder die ich beantworten muss. Ins Bett zu gehen mit dieser Erwartungshaltung, dieser Anspannung, das stört den Schlaf. Das ist vergleichbar mit einem Feuerwehrmann oder Arzt, der Bereitschaftsdienst hat. Der muss ja immer damit rechnen, dass zu jeder Zeit mitten in der Nacht das Telefon klingeln kann und er aufspringen muss.
ver.di publik: Weshalb auch die ständige Erreichbarkeit durch die Arbeit – über den Feierabend hinaus – ein Schlaf-Störfaktor ist?Fietze: Genau. Das werden wir wahrscheinlich nicht abstellen können in dieser Gesellschaft. Was wir aber aus schlafmedizinischer Sicht sagen können: Wenn wir verhindern wollen, dass immer mehr Menschen in eine Schlafstörung rutschen, dann haben Handy und Tablet im Bett nichts zu suchen.
ver.di publik: Was könnten Schichtarbeiter machen, um besser zu schlafen?Fietze: 80 – 85 Prozent aller Schichtarbeiter kennen Müdigkeit oder Schlafprobleme, aber zum Glück nicht dauerhaft. Dauerhafte Schlafstörungen muss man therapieren.
Ansonsten wären Tipps für Schichtarbeiter: Nach der Nachtschicht mit Sonnenbrille nach Hause fahren, um sich nicht dem Licht auszusetzen, da das Licht Melatonin unterdrückt und man dann schlechter einschläft. Zu Hause den Schlafkomfort so gestalten, dass man Ruhe hat und nicht die Kinder oder Nachbarn einen wachhalten. Auf Mahlzeiten achten – Proteine machen munter, Kohlenhydrate müde. Und vorschlafen vor der Nachtschicht. Denn Schlaf kann man aufteilen. Auch Pflanzenpräparate wie Hopfen, Baldrian und Melisse können zur Einschlafunterstützung helfen.
ver.di publik: Schichtwechsel sind besonders schwierig. 42 Prozent haben danach Probleme beim Schlafen.Fietze: Ja, aus schlafmedizinischer Sicht müsste man den Schichtdienst sofort abschaffen. Das ist wider unseren natürlichen Rhythmus. Am besten wäre es, wenn sich die Beschäftigten den Schichtdienst selber einteilen könnten. Es gibt ja bis heute kein Schichtmodell, was an Nummer 1 steht, wo man sagt, das müssten alle machen, das ist am gesündesten. Aber ich fand am einleuchtendsten eine Studie aus Schweden, die man unter Polizisten gemacht hat: Diejenigen, die sich ihren Schichtrhythmus selber einteilen konnten – abgestimmt mit den familiären Notwendigkeiten – lebten am gesündesten.
ver.di publik: Es gibt Nachteulen und Frühaufsteher. Wären da flexiblere Arbeitszeiten besser?Fietze: Unbedingt. So wie die Schulzeit bei Kindern nach hinten gelegt werden sollte, sollte man bei Erwachsenen selbstbestimmte, flexible Arbeitszeiten einführen. Wenn einer seine Leistung am besten zwischen 12 und 20 Uhr abrufen kann, dann wäre ich doch dumm als Arbeitgeber, wenn ich das nicht nutzen würde. Und genauso, wenn jemand gern um 5 Uhr früh beginnen möchte. Wenn man heute darüber nachdenkt, wo noch Leistungspotenziale sind: Da ist eins.
ver.di publik: Was können Unternehmer noch besser machen, um ausgeschlafene Beschäftigte zu bekommen?Fietze: Das Image des Schlafes muss verbessert werden. Schlafstörungen gehören nicht verteufelt, sondern behandelt. Da müssen Betriebsärzte und Arbeitsmediziner mitziehen. Bei Schlafdefizit sollen sich die Leute zur Pause nicht den zehnten Kaffee reinziehen, sondern sich mal 15 oder 20 Minuten auf die Haut legen können. Wenn Unternehmen den Platz nicht haben oder schaffen möchten, dann sollten sie den Mitarbeiter auf der Tastatur schlafen lassen. Büroschlaf hat so ein negatives Image, dabei kostet es nichts und bringt eine Menge an zusätzlichem Leistungspotenzial. Die Direktive sollte sein: Lasst die Leute schlafen, wenn sie müde sind.
INTERVIEW: Fanny Schmolke