Ausgabe 07/2018
Gleiche Bedingungen für alle
Die Mitbestimmung in Deutschland ist ein Erfolgsmodell. Die Belegschaften von Unternehmen mit Interessenvertretungen sind kreativer, motivierter und besonders in Krisenzeiten besser geschützt. Azubis bleiben nach der Ausbildung länger im Betrieb, es verfallen weniger Urlaubstage und den Beschäftigten wird mehr Weiterbildung angeboten. Das sind nur sechs der positiven Beispiele, die die Hans-Böckler-Stiftung in ihrer Broschüre „Vorteil Mitbestimmung“ aufführt.
Vor 100 Jahren begann die Mitbestimmung mit der Unterzeichnung des sogenannten Stinnes-Legien-Abkommens. Heute gehört es zum gesellschaftlichen Selbstverständnis, dass Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen geregelt werden. Unabhängig von staatlichen Einflüssen verhandeln die Tarifvertragsparteien. Diese sogenannte Tarifautonomie lobte jüngst auch Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Sie habe maßgeblich „zur Entwicklung unserer Sozialen Marktwirtschaft, unserer volkswirtschaftlichen Leistung und unserer den Zusammenhalt stärkenden Sozialsysteme“ beigetragen, schreibt Kramer in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ).
Weil jedoch die Tarifbindung sinke und auch immer weniger Arbeitgeber Mitglied in den entsprechenden Verbänden seien, sieht er notwendige Änderungen. Mehr Öffnungsklauseln, mehr Flexibilität sind seine Stichworte. Dem widerspricht Norbert Reuter, Leiter der Abteilung Tarifpolitik beim ver.di-Bundesvorstand. Er fürchtet, dass Kramers Vorschläge zu weniger statt mehr Tarifbindung führen. „Der Sinn von Branchentarifverträgen ist, für alle Unternehmen einer Branche gleiche Bedingungen zu schaffen“, sagt Reuter. Das gelte vor allem hinsichtlich Arbeitszeit und Entlohnung. Dann könne eine produktive Konkurrenz um bessere Produkte, Dienstleistungen, Ideen und Effizienz entstehen. „Branchentarifverträge verhindern, dass sich Unternehmen Wettbewerbsvorteile durch simples Lohn- und Arbeitszeitdumping verschaffen“, beschreibt Reuter einen wesentlichen Vorteil.
Öffnungsklauseln habe es bereits in der Vergangenheit schon gegeben, dort, wo es sinnvoll und praktikabel gewesen sei. Eine Ausweitung, wie Kramer sie fordere, könne zu einer weiteren Auflösung der Geltung von Branchentarifverträgen beitragen. Deswegen würden sich die Gewerkschaften dem auch immer häufiger widersetzen. Ein weiterer Vorschlag des Arbeitgeberpräsidenten ist, Tarifverträge in Modulen zu gestalten. „Heutige Tarifverträge sind vielfach zu komplex geworden“, beklagt er in seinem Text für die FAZ. Vor den „strengen betriebsfernen Arbeitszeitregularien“ würden Arbeitgeber häufig zurückschrecken, würden deswegen komplett tarifungebunden bleiben wollen. Um das zu verhindern, entwickelt Kramer die Idee einer „modularen Tarifbindung“: „Arbeitgeber, die bislang nicht in der Tarifbindung sind, und Gewerkschaften sollen dabei aus einem Gesamtpaket eines Tarifwerks Module auswählen und diese für den Betrieb übernehmen können.“ Auch Betriebsräte und Arbeitgeber können auf der Grundlage von Tarifverträgen solche Module übernehmen.
Als „Rosinenpickerei“ bezeichnet der Gewerkschafter Reuter diese Vorschläge. „Der gesamte Tarifvertrag stellt immer das Ergebnis eines Gesamtkompromisses dar“, argumentiert er. Lediglich einzelne Module anzuwenden würde nur zur weiteren Zersplitterung der Tariflandschaft beitragen. Das Jubiläum 100 Jahre Tarifautonomie sei durchaus ein Anlass, über deren Zukunft zu debattieren. „Allerdings sollte dabei die Bedeutung der Tarifautonomie und von allgemein gültigen Branchentarifverträgen deutlich gemacht werden“, betont er. Damit die Mitbestimmung in Deutschland weiterhin ein Erfolgsmodell bleibt. hla
Mehr Geld für Mitglieder
Bei einem Festakt aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Tarifautonomie in Deutschland hat der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske Mitte Oktober deren überragende Bedeutung für die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung in der Bundesrepublik hervorgehoben. Gleichzeitig hat er aber angesichts der zunehmenden Tarifflucht vieler Unternehmen Verbesserungen angemahnt. Er sprach sich dafür aus, „einen Teil des tarifgebundenen Arbeitsentgelts steuerfrei zu stellen“. Dies sollte über einen neuen Steuerfreibetrag in Höhe eines Drei- bis Vierfachen des Gewerkschaftsbeitrags bei einem Durchschnitteinkommens liegen, also 1.300 bis 1.700 Euro pro Jahr. In Anspruch nehmen könnten ihn nach Bsirskes Vorstellungen nur Gewerkschaftsmitglieder, die in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten. Damit hätten tarifgebundene Arbeitgeber einen Vorteil bei der Suche nach begehrten Fachkräften. Auch die Vergabe öffentlicher Aufträge sollte künftig an „tarifliche Entgeltsätze der einschlägigen Tarifverträge“ gebunden werden.