Der Deutsche Bundestag im Weihnachtsglanz. Im Innern des Gebäudes sieht es arbeitsrechtlich eher aus wie bei Merkels unterm Sofa

von Günter Frech

Ausgerechnet dort, wo festgelegt wird, was in Bundesdeutschland als Recht und Gesetz gilt, gibt es einige tausend abhängig Beschäftigte, denen entscheidende Arbeitnehmerrechte vorenthalten werden. Sie genießen beim Deutschen Bundestag weder den Schutz einer gesetzlichen Interessenvertretung nach Betriebsverfassungs- oder Personalvertretungsrecht, noch werden ihre Arbeitsbedingungen tarifrechtlich geregelt.

"Hier glauben die Leute ja, dass sie bei politischen Freunden arbeiten - bis es das erste Mal kracht." Axel Weinsberg, persönlicher Mitarbeiter der SPD-Abgeordneten Karin Roth, sieht es nüchtern: Beim Deutschen Bundestag arbeiten rund 11000 Menschen, und da gibt es - wie in der übrigen Arbeitswelt auch - Interessenkonflikte. An denen ist der 45-jährige Politikwissenschaftler nah dran - als Sprecher der ver.di-Vertrauensleute und der ver.di-Betriebsgruppe der persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten.

Alle Jahre wieder

Gekracht hat es für viele Beschäftigte in der Wahlnacht vom 27. zum 28. September. "Mein Abgeordneter ist nicht wieder gewählt worden. Wenn ich nicht bei einem anderen unterkomme, bin ich meinen Job los." Hundertfach wurde dieser Satz nach dem Urnengang gestöhnt. Wer bei einer Fraktion oder einem Abgeordneten arbeitet, muss immer damit rechnen, dass er nach einer Bundestagswahl seinen Arbeitsplatz verliert.

Die SPD hat 76 Mandate eingebüßt: das "Aus" für 400 Beschäftigte. Einige gehen zurück in die Ministerien, von denen sie ausgeliehen worden waren, andere finden beim Parteivorstand oder der Friedrich Ebert Stiftung Arbeit.Für die persönlichen Mitarbeiter sieht es düster aus. Da hatte Axel Weinsberg die Idee mit der Liste. Die SPDler sollten ankreuzen, ob sie sich auch vorstellen könnten, bei einer anderen Fraktion zu arbeiten. Viele können sich vorstellen, auch für die Grünen zu arbeiten, die wenigsten für die FDP und etwa 90 für die Linken. Die hat durch die Wahl 23 Mandate hinzubekommen und wird ihr Personal um 25 bis 30 Menschen aufstocken können.

Nur die Linksfraktion hat's geregelt

Kathrin Moor arbeitet seit Anfang 2006 für die Linksfraktion. Zu ihr gehen alle, die etwas über die Rente mit 67 wissen möchten. Die 36-jährige Sozialwissenschaftlerin ist für beinahe alles zuständig, was mit den sozialen Sicherungssystemen zu tun hat. Bevor zum Beispiel der Abgeordnete Klaus Ernst zu einer Talkshow geht, kommt sein Mitarbeiter Michael Stamm zu Kathrin Moor und fragt, ob es etwas gibt, "was der Klaus wissen muss". Die Fraktionsreferentin brieft dann den persönlichen Mitarbeiter, und der bereitet seinen Abgeordneten für den Auftritt bei Anne Will vor.

Bei der Linksfraktion fand die verheiratete Wissenschaftlerin und Mutter eines dreijährigen Kindes nach ihrer Promotion ihren "ersten richtigen Job". Sie ist eine von derzeit noch 130 Angestellten der Fraktion, die dafür sorgen, dass die 76 Abgeordneten in der Öffentlichkeit mit Fachwissen glänzen können. Zumindest in der Fraktion "wird vorgelebt, was programmatisch von der Partei gefordert wird", lobt Kathrin Moor ihre Arbeitgeberin und zählt auf: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist durch flexible Arbeitszeiten gewährleistet. Die Gehälter werden nicht nach "Nasenfaktor" gezahlt, sondern sind in einem mit ver.di abgeschlossenen Tarifvertrag geregelt, und der Betriebsrat wacht über dessen Einhaltung. Unzufrieden ist Kathrin Moor mit dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad der Beschäftigten. "Klar, der Tarifvertrag muss für alle gelten. Als politische Menschen sollten wir dann auch vorleben, dass die Gewerkschaftsmitgliedschaft dazugehört."

Das sieht auch Michael Stamm, 32, so. Zumal die persönlichen Mitarbeiter der Abgeordneten weit davon entfernt sind, unter geregelten Bedingungen zu arbeiten. "Mitbestimmung müssen wir uns erst noch erstreiten", stellt der Politikwissenschaftler klar, und erklärt den Betrieb Bundestag: Die Beschäftigten des Hohen Hauses teilt Michael Stamm in vier Gruppen ein. Sie sind entweder direkt beim Bundestag angestellt oder bei einer der fünf Fraktionen. Drittens gibt es das Kantinen-, Wachdienst- und Reinigungspersonal, das wie der Fahrdienst in Privatfirmen ausgegliedert ist.

"Leibeigene" gibt es am meisten

Die vierte Gruppe, mit 4700 Beschäftigten der weitaus größte Teil, arbeitet in den 622 Abgeordneten- und Wahlkreisbüros. Sie managen den politischen Alltag ihrer jeweiligen Abgeordneten. Dafür steht jedem Mitglied des Bundestages (MdB) eine monatliche Pauschale in Höhe von 14712 Euro zur Verfügung. Die Arbeitsverträge werden zwischen MdB und Beschäftigtem geschlossen. So sind die 622 MdB-Büros betriebsverfassungsrechtlich eigenständige Kleinbetriebe. Rechnerisch sind in jedem MdB-Büro siebeneinhalb Menschen - im Hausjargon "Leibeigene" - beschäftigt. Laut Betriebsverfassungsgesetz können in Betrieben mit mindestens fünf Beschäftigten Betriebsräte gewählt werden. Also rein theoretisch 622 Ein-Personen-Betriebsräte.

Nach Recherchen von ver.di PUBLIK gibt es in weniger als einem Dutzend MdB-Büros solche gesetzlichen Interessenvertretungen. Praktisch wird die theoretische Möglichkeit also gar nicht angewandt. So experimentieren die Beschäftigten seit Jahrzehnten mit rechtlich unverbindlichen Konstruktionen. Derzeit gibt es einen fraktionsübergreifenden Mitarbeiterbeirat, der das Thema Mitbestimmung vorantreiben möchte.

Mitbestimmung für alle

Auf Initiative der Beschäftigten der Linken und von ver.di wurde in der vergangenen Legislaturperiode gutachterlich geklärt, ob auf die einzelnen MdB-Büros das Betriebsverfassungsgesetz anwendbar ist. "Ja", schlussfolgern zwei Gutachten. Die von konservativer Seite gestellte Frage, ob damit ein verfassungswidriger Eingriff in die durch Artikel 38 des Grundgesetzes geschützte freie Mandatsausübung verbunden ist, wird darin verneint. "Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist im deutschen Recht flächendeckend vorgesehen", so der Staats- und Verwaltungsrechtler Bodo Pieroth von der Universität Münster.

Trotzdem scheiterte der Versuch, einen gemeinsamen Betriebsrat zu wählen. Die Freiburger Rechtsanwältin Henrike Vetter, die zum Thema "Das Arbeitsverhältnis der Mitarbeiter von Bundestagsabgeordneten" ihre Doktorarbeit geschrieben hat, zeigte Wege zur Gründung eines Betriebsrates auf: Nach dem Betriebsverfassungsgesetz besteht durchaus die Möglichkeit, Einzelheiten dazu in einem Tarifvertrag zu regeln.

Vetters Promotion wurde von dem konservativen Arbeitsrechtler Manfred Löwisch mit der Bestnote versehen. "Wenn Professor Löwisch meine Ausführungen nicht moniert, wer soll dann noch daran Anstoß nehmen?", fragt die Anwältin. Sie kann nicht verstehen, warum die Linksfraktion hier "nicht Vorreiterin sein möchte" und ihre guten Ansätze in der Fraktion auch auf die restlichen Beschäftigen überträgt.

Zu viele offene Fragen, argumentieren die Linken, die sich hinter ungeklärten Problemen bei der Finanzierung der Betriebsratsarbeit verschanzen. Zum Beispiel sehe das Abgeordnetengesetz keine Aufwendungen für die betriebliche Interessenvertretung vor. Dabei geht es "um Beträge im zweistelligen Bereich pro Monat und Abgeordnetem", rechnet Tobias Schürmann vor, der für ver.di auch über Tarifverträge für Beschäftigte beim Bundestag verhandelt.

"Hier im Haus werden Gesetze gemacht. Hier ist aber auch ein demokratiefreier Raum, und das halte ich für einen unhaltbaren Zustand", schimpft Werner Dreibus, gewerkschaftspolitischer Sprecher der Linken im Bundestag. Der Abgeordnete aus Offenbach, der zudem Verantwortlicher seiner Fraktion für Personal und Finanzen ist, stellt für die nächste Zeit eine Initiative in Aussicht, mit der angestrebt wird, dass alle Abgeordneten im Sinne der Personalvertretung einen einheitlichen Betrieb bilden.

Über die Köpfe hinweg

In einem Brief hat ver.di-Chef Frank Bsirske Bundestagspräsident Norbert Lammert, CDU, aufgefordert, "die notwendige Finanzierung der Betriebsratsarbeit" sicherzustellen. Lammert antwortete, die Personalkommission des Ältestenrats beschäftige sich mit dem Thema. "Wir unterstützen die Mitarbeiter in allen Fragen, die sich aus ihrer Sondersituation ergeben", gibt die Vorsitzende des Gremiums, Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, zu Protokoll. Über die mageren Mitbestimmungsmöglichkeiten möchte die Grüne nicht reden. "Die Kommission entscheidet über unsere Köpfe hinweg", kritisiert Axel Weinsberg den Umgang mit den Beschäftigten. Deshalb werde die ver.di-Betriebsgruppe auch so lange keine Ruhe geben, "bis alle Beschäftigten im Bundestag ihre Mitbestimmungsrechte bekommen haben".