Soziale Gelbsucht – Als Guillaume Paoli im Sommer diesen Jahres sein fertiges Buch über die Gelbwesten dem Verlag überlassen hatte, konnte er nicht wissen, dass sich Frankreich zum Ende des Jahres in einem Generalstreik befinden würde. Doch durch seine kleine, feine Schrift "Soziale Gelbsucht" zieht sich eine These: Die Gilets Jaunes, die Gelbwesten, hätten von ihren ersten Protesten an als Verkehrsinselbesetzer deutlich zu verstehen gegeben, dass die "Sorge um das Ende der Welt" nicht von der "Sorge um das Ende des Monats" zu trennen sei. Mit ihrer Bewegung hätten sie die Soziale Frage ins Zentrum der Gesellschaft gerückt.

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Und da diese Frage nicht geklärt ist, schwingt beim Autor leise die Hoffnung mit, dass sich die gelbe Bewegung damit auch noch nicht erledigt hat. Obwohl auch das eines Tages nicht auszuschließen sei, so Paoli. Aber vorläufig behält er Recht. Wie sich die Gewerkschaften im Frühjahr und Frühsommer in die Massenproteste der Gelbwesten eingereiht haben, so haben zum Ende des Jahres nun die Gewerkschaften wegen der geplanten "Rentenreform" der Regierung Macron die Soziale Frage gestellt, und die Gelbwesten haben sie lautstark mitgestellt.

Wieso also die "soziale Gelbsucht" grassiert, erklärt Paoli auf 159 kurzweiligen Seiten sehr anschaulich. Entgegen der schnell und weit verbreiteten Meinung, es handle sich um eine von Rechtsradikalen gekaperte und gesteuerte Bewegung, zeigt er auf, dass die Gelbwesten tatsächlich Menschen verschiedenster Berufsgruppen sind, die vor allem eines eint: Ihre Einkommen reichen kaum noch bis zum Monatsende. Noch viel mehr zeichnet Paoli aber aus, wie er die Gelbwesten in die Geschichte einbettet, angefangen von der Französischen Revolution über Macrons Marsch in den Präsidentenpalast, den Zustand der französischen Republik an sich bis hin zur Verfassung Europas und zu Deutschland insbesondere. Letzteres deshalb, weil die Lage sehr vieler Menschen hierzulande weit prekärer sei und immer wieder die Frage gestellt werde, warum die Franzosen dennoch häufiger rebellierten. "Experten wollen verstehen, warum Menschen zuweilen aufbegehren. Dabei bleibt das viel größere Rätsel ungelöst, warum sie in der Regel nicht aufbegehren", schreibt Paoli. Lösen freilich kann auch er das Rätsel nicht. pewe

Guillaume Paoli: Soziale Gelbsucht, Matthes & Seitz Verlag, 159 Seiten, 15 €, ISBN 9783957578051

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Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen – 1949 wurden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Selbst 70 Jahre später – mittlerweile sind die beiden deutschen Staaten seit 29 Jahren vereint – ranken sich um die jungen Jahre der BRD viele Mythen und Legenden. Passend zum 70. Geburtstag hat die Berliner Journalistin Ulrike Herrmann ihr Buch Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen vorgelegt. Darin räumt sie mit vielen Geschichten aus der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik und des wiedervereinten Deutschlands auf.

Sie fängt an mit Ludwig Erhard. Er soll der Vater des sogenannten Wirtschaftswunders gewesen sein. Der CDU-Politiker war von 1949 bis 1963 Wirtschaftsminister der jungen Bundesrepublik. "Ein talentierter Selbstdarsteller", überschreibt Herrmann das Kapitel über den späteren Bundeskanzler (1963 bis 1966). Er habe nicht nur vom NS-Regime profitiert und seine Widerstandsbiografie frisiert, selbst Bundeskanzler Konrad Adenauer und einige der anderen Ministerkollegen sollen ihn für eine "ahnungslose Plaudertasche" gehalten haben, unterstützt von einflussreichen Journalisten und Industriellen.

Doch warum hält sich sein Ruhm bis heute? Herrmanns Antwort ist einfach: "Um an dem Mythos festzuhalten, die Deutschen hätten ihren Wiederaufstieg völlig allein und nur aus eigener Kraft bewirkt". Dabei werde gerne übersehen, dass ohne die Großzügigkeit der USA und Westeuropas das vermeintliche Wirtschaftswunder nie hätte stattfinden können. Zudem hat sich ein solches Wunder nach dem 2. Weltkrieg auch in anderen westeuropäischen Staaten vollzogen.

Ähnlich zerstört Herrmann auch den Mythos der sozialen Marktwirtschaft. Ein schöner Begriff, impliziert er doch sozialen Ausgleich. Zwar stiegen bis Anfang der 1960er Jahren die Reallöhne von Industriearbeitern stark an, und im Gegenzug sank ihre Arbeitszeit – die Wirtschaftsleistung stieg aber noch schneller, sodass diese vermeintlichen Wohltaten von den Unternehmern locker finanziert werden konnten. So sei ein großer Teil des Wachstums allein den Unternehmen zugute gekommen.

Diese Liste setzt Herrmann fort, bis hin zu einer Bilanz der rot-grünen Bundesregierung und der Eurokrise. Bei den heutigen Politiker*innen vermisst sie den Willen, "echte Wirtschaftspolitik" zu betreiben. Immer noch sei es ein Tabu, kritisch über die "Soziale Marktwirtschaft" nachzudenken. Dabei sei ein umweltverträgliches Wirtschaftsmodell nötig – und in dessen Zuge "würden sich die sozialen Fragen neu stellen und Umverteilung wäre unumgänglich". hla

Ulrike Herrmann: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, das wir reich geworden sind, Westend-Verlag, Frankfurt/Main, 321 Seiten, 24 €, ISBN 978-3864892639