Ausgabe 04/2021
Vor Hackern schützen
Umfragen in mehreren Ländern brachten überall das gleiche Ergebnis: Trinkwasser steht für die Bürger*innen an oberster Stelle, wenn es um die wichtigsten Güter und Dienstleistungen geht. Hier darf nichts riskiert werden. Cyberattacken wie in diesem Frühjahr gegen die größte Pipeline in den USA wären eine Katastrophe. Die Betreiber konnten die Software nur durch mehrere Millionen Dollar Lösegeld befreien und so die Versorgung der Tankstellen wieder in Gang bringen. Kurz danach drangen Hacker ins irische Gesundheitssystem ein.
Die digitale Vernetzung aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche macht wichtige Infrastrukturen anfällig für Angriffe von Kriminellen und Geheimdiensten. Dass die Wasserver- und Abwasserentsorgung unbedingt vor solchen Attacken geschützt werden muss, dürfte unbestritten sein. Das heißt aber nicht, dass hier alles analog laufen sollte. Im Gegenteil. "Schon seit den 1990er Jahren gibt es in der Branche viele digitale Anwendungen, um Prozesse zu steuern. Was früher zu Fuß und auf dem Papier erledigt wurde, übernimmt zunehmend die Software", sagt Dirk Thonke, Ingenieur und Personalrat bei den Berliner Wasserbetrieben (BWB). Zunächst ging es darum, mit Sensoren die Wassermengen an bestimmten Punkten zu messen. Heute laufen mit einer einzigen Ausnahme alle 163 BWB-Abwasserpumpwerke vollautomatisiert und ohne dass ständig Menschen vor Ort sein müssen.
Algorithmen warnen, Menschen entscheiden
Das Wissen der Beschäftigten wird dadurch keineswegs überflüssig. Kommt es zu einer Havarie, müssen sie die Situation analysieren und die richtige Entscheidung treffen. Das geht heute dank digitaler Technik wesentlich schneller als früher. Auf den Bildschirmen in der Leitzentrale der Wasserwerke haben Fachleute den Überblick über einige tausend Kilometer Leitungsnetze, die Aufbereitungsanlagen und deren aktuelle Durchflüsse. Gibt es Abweichungen vom Normalbetrieb, können sie sich sofort in den kritischen Bereich reinzoomen und die Umgebung analysieren. Grüne und rote Punkte zeigen an, welche Schieber offen und welche geschlossen sind. Algorithmen weisen auf ungewöhnliche Abweichungen vom Normalbetrieb hin und machen Lösungsvorschläge.
Für die Entscheidung, was jetzt geschehen muss, braucht es dann aber wieder kundige, gut ausgebildete Menschen, die abschätzen können, was das Verschieben einer bestimmten Absperrung auslöst, oder ob eine Pumpe auszuwechseln ist. Derweil die Fachleute in der Leitzentrale Ursachenforschung betreiben, sind ihre Kolleg*innen schon auf dem Weg zum Geschehen und können dort gleich mit der Schadensbehebung beginnen. Auf ihren Tablets finden sie alle dafür nötigen Informationen.
Natürlich sind in den vergangenen Jahren bei den BWB viele Tätigkeiten weggefallen, darunter auch gefährliche Arbeiten in den Kanälen, die jetzt von Robotern erledigt werden. Trotzdem sind Aufgaben wie Inspizieren, Reinigen und Reparieren immer nur zum Teil automatisierbar. Betriebsbedingte Kündigungen hat es dank eines "Vertrag des Vertrauens" auch nie gegeben. Viele Kolleg*innen wurden weitergebildet und steuern nun einen Großteil der Arbeiten von oben per Tablet.
Inzwischen sind sowieso nicht mehr drohende Arbeitsplatzverluste das zentrale Thema, sondern der sich verschärfende Mangel an Fachkräften, sagt Personalrat Ron Roenspieß. Viele ältere Kollegen können noch am Geräusch erkennen, in welchem Zustand eine Pumpe ist und ob sie demnächst ausfallen könnte. Solches Wissen ist wertvoll, weil es viel effektiver ist als starre Wartungsrhythmen. Wenn die "alten Hasen" nun aber nach und nach in Rente gehen, muss ihre Erfahrung ersetzt werden. Deshalb ist es wichtig, mit Hilfe von Daten schleichende Veränderungen zu registrieren und so den anstehenden Reparaturbedarf möglichst zu erkennen, bevor ein Schaden eintritt. Auch Beobachtungen von Anwohner*innen können helfen, betont Roenspieß. Deshalb haben die BWB ihre Abteilung für Kundenbeschwerden mit der für die Kanalsanierung vernetzt. Gibt es ein erhöhtes Meldeaufkommen, dass es irgendwo stinkt, bekommen das diejenigen schnell mit, die Abhilfe schaffen können.
Cool, sicher und nachhaltig
Um gute Werkzeuge zu entwickeln, mit denen sich die vielen Prozesse optimal steuern lassen, haben die BWB vor ein paar Jahren ein "Center of Excellence" für Digitalisierung gegründet. "Da gibt es viele coole Projekte",so der Wirtschaftsinformatiker Roenspieß. Dabei hat die Sicherheit der Dienstleistung für die Berliner Bevölkerung stets höchste Priorität. Aus diesem Grund betreiben die BWB auch zwei eigene Rechenzentren und verfügen über ein 230-köpfiges IT-Team.
In den zwölf Jahren, als die Hälfte des Betriebs drei Großkonzernen gehörte, war die Abteilung outgesourct. Doch ein Volksentscheid erzwang die Rekommunalisierung des Unternehmens – und damit sind auch die IT-Expert*innen jetzt wieder direkt bei der BWB angestellt. Sie nutzen nur Software, deren Programmierung sie kontrollieren können: So ist sichergestellt, dass Externe die Daten nicht unbemerkt abgreifen können. Auch haben sie die BWB-Netzwerke in kleinere Sequenzen unterteilt, um das Gesamtsystem vor Hackerangriffen zu schützen.
Nicht nur wegen ihrer herausragenden Bedeutung für die Bevölkerung ist die Wasserwirtschaft eine Ausnahmebranche. "Sie ist ein natürliches Monopol und zugleich maximal divers, was die Betriebsgrößen angeht", fasst ver.di-Fachfrau Clivia Conrad zusammen. Die meisten Unternehmen haben weniger als 20 Beschäftigte, bei den BWB sind es fast 4.500. "Weil es keine Konkurrenz gibt, ist der Umgang untereinander relativ solidarisch und die Großen sind häufig bereit, ihr Wissen zu teilen." Das gibt auch kleineren Kommunen die Chance, ihre Wasserversorgung sicher und nachhaltig aufzustellen.
"Wir fordern, dass nur solche Investitionen getätigt werden, die eine politische und unternehmerische Einflussnahme im Interesse des Gemeinwohls weiterhin zulassen", heißt es in einem ver.di-Grundsatzpapier. Das wäre beispielsweise nicht der Fall, wenn ein Unternehmen aus wirtschaftlichen Überlegungen Pumpenlaufzeit als Dienstleistung einkauft, um nichts mehr mit der Wartung und Reparatur zu tun zu haben. Damit verlöre das Wasserwerk nämlich zugleich die Kontrolle, was mit den Daten passiert, die die Pumpe liefert.
Ebenfalls unklar ist, auf welches Ziel der Algorithmus der Maschine tatsächlich ausgelegt ist und folglich, wann es eine Fehlermeldung gibt: Soll die Anlage nachhaltig betrieben oder auf Verschleiß gefahren werden? Darüber entscheidet der Algorithmus. Und schließlich öffnet eine solche Konstruktion Hackern ein riesiges Einfallstor – und das ist beim wichtigsten Überlebensmittel schlicht ein zu großes Risiko.