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Immer wieder freitags: Pflegepersonal, Ärzt*innen und Patient*innen im stillen ProtestFoto: Geoffroy van der Hasselt/AFP/Getty Images

Seit Jahresanfang versammeln sich jeden Freitag am Eingang französischer Krankenhäuser Pflegepersonal, Ärzte und Patienten, um eine Schweigeminute abzuhalten. Getrauert wird um "den pro- grammierten Tod des Krankenhauses". Einleitend wird die Mitteilung verlesen: "Wir sind heute hier, weil wir unsere Patienten gern weiterhin behandeln möchten, trotz Erschöpfung, trotz Bettenschließungen, trotz Haushaltskürzungen und trotz aller Hindernisse, die wir seit so vielen Jahren immer wieder überwinden müssen. Aber wir sind jetzt am Ende. Unser physischer und moralischer Einsatz reicht nicht mehr. Wenn keine radikale Veränderung kommt, wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Geschichte sein."

Wer kann, wechselt

Leider ist die Feststellung nicht übertrieben. So beklagenswert die Lage in hiesigen Krankenhäusern ist, das Elend jenseits des Rheins ist noch eine Nummer größer. Angefangen beim Pflegepersonal. Frankreich gehört zu den sehr wenigen OECD-Ländern, wo Krankenschwestern unterhalb des Durchschnittslohns bezahlt werden, was zu einem Teufelskreis führt. Wegen des chronischen Personalmangels müssen sie viele Überstunden leisten, infolgedessen häufen sich Krankmeldungen und Kündigungen. Wer die Chance hat, wechselt in eine Privatklinik. Als kurz nach seiner Wahl Präsident Macron von Krankenschwestern auf die finanzielle Misere angesprochen worden war, antwortete er mit der sprichwörtlich gewordenen Absage: "Magisches Geld gibt es nicht."

Es blieb dabei, selbst wenn seit Januar Intensivpflegekräften eine Sonderprämie von 100 Euro monatlich zugestanden wird. Nicht nur hat vor Gesundheitsausgaben die Reduzierung des Haushaltsdefizits Priorität. Öffentliche Krankenhäuser werden zudem wie Privatfirmen nach Prinzipien der bedarfssynchronen Beschaffung und der Leerstandminimierung verwaltet. Darum sind in den letzten 15 Jahren 75.000 Krankenhausbetten abgeschafft worden, mit einem Rekord von 5.700 ausgerechnet im Pandemiejahr 2020. Derzeit mobilisieren die Gewerkschaften gegen die geplante Fusionierung zweier Krankenhäuser im Norden von Paris, die weitere Kapazitäten vernichten soll. Der methodische Abbau wird mit dem perfiden Argument gerechtfertigt, es gebe ohnehin zu wenig Personal, um mehr Patienten zu pflegen.

Protest der "Weißkittel"

Auf tausend Einwohner kommen in Deutschland 7,9 Betten, in Frankreich 5,6. Deswegen mussten während der ersten zwei Wellen der Covid-Pandemie französische Patienten nach Deutschland ausgeflogen werden. Doch bereits vor Corona wäre ein jahreszeitüblicher epidemischer Ausbruch von Bronchiolitis, eine Virusinfektion, die die unteren Atemwege von Kindern unter 24 Monaten befällt, beinah katastrophal ausgegangen: Wegen fehlender Intensivbetten mussten im Dezember 2019 Säuglinge in über hundert Kilometer entfernte Krankenhäuser transferiert werden. Die Pandemie stellt also keinen Bruch in der Gesundheitspolitik Frankreichs dar, sondern die traurige Bestätigung einer anhaltenden Lage.

Während der letzten drei Jahre ließ eine unerhörte Protestbewegung im öffentlichen Gesundheitssektor niemals nach. Die Streikwelle hatte im März 2019 in überlasteten Notaufnahmen angefangen und weitete sich dann flächendeckend aus. An sukzessiven landesweiten Aktionstagen nahmen sehr viele Demonstranten teil. Inspiriert von den Gelbwesten (und oft zusammen mit ihnen) griffen die "Weißkittel" zu medienwirksamen Aktionen. So warfen sie einmal ihre gesamten Kittel der Gesundheitsministerin Agnès Buzyn vor die Füße, bevor sie ihr demonstrativ die Rücken kehrten; heute ist Buzyn wegen unterlassener Hilfeleistung bei der Corona-Krise angeklagt.

Der außergewöhnliche Mobilisierungsgrad hängt mit der originellen Organisationsform der Protestierenden zusammen. Am Anfang der Bewegung hat sich ein "Collectif-Inter-Urgences" (Gesamt-Notaufnahmen-Kollektiv) formiert, später auf alle Stationen als "Collectif-Inter-Hôpitaux" ausgeweitet. Ziel war, die üblichen Trennungen nach Gewerkschaftszugehörigkeit und Dienstgrad zu überwinden. Am Kollektiv beteiligen sich gleichberechtigt Mitglieder verschiedener Gewerkschaften wie Unorganisierte, Pflegehelfer wie Chefärzte. Der Konflikt eskalierte wenige Tage vor dem Corona-Ausbruch, als 1.300 Chefärzte kollektiv von ihren Verwaltungsfunktionen zurücktraten (sie gewährleisten nur noch medizinische Arbeit), um Regierung und Öffentlichkeit ob des gefährlichen Zustands der Gesundheitsversorgung und der dringend gebrauchten Mittel wachzurütteln.

Doch obwohl besonders seit Pandemiebeginn die anhaltenden Proteste die Sympathie breiter Bevölkerungsteile haben, treffen sie von offizieller Seite aus nur auf leeres Gerede. Im August letzten Jahres wurde ein gefordertes Referendum über den "universellen Zugang zur hochwertigen Gesundheitsversorgung" als verfassungswidrig abgelehnt. In diesem Zusammenhang konnte die jüngst eingeführte Impfpflicht für das Pflegepersonal nur als weiterer Affront empfunden werden. Geimpft sind sie ohnehin in der überwiegenden Mehrheit, doch mit der Verdächtigungsmaßnahme werden die zu Sündenböcken gemacht, denen eine stur fehlgeleitete Politik am meisten zu schaffen macht.