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Arbeitsbedingungen für die Tonne: Lieferando trackt seine Fahrer, seine Verpackungen noch nichtFoto: Sorge/Caro/FOTOFINDER.COM

Der Essensbringdienst Lieferando hat einen Negativ-Preis gewonnen. Mit dem "Big Brother Award" werden jedes Jahr besonders fiese Datenkraken ausgezeichnet. "Stellen Sie sich vor, Ihr Arbeitgeber weiß zu jeder Zeit, wo Sie sich aufhalten. Er registriert, wie schnell oder langsam Sie ihre Arbeit erledigen, ob Sie Pausen machen oder wie genau Sie die Vorgaben einhalten. Und all diese Daten sammelt er auf unbestimmte Zeit." So fasste der Arbeitsrechtsprofessor Peter Wedde in seiner Laudatio den Alltag der Beschäftigten beim europäischen Marktführer zusammen.

Im Sekundentakt überwacht

Das Unternehmen gehört dem niederländischen Konzern Just Eat Takeaway. Es verdient sein Geld vor allem als Plattform für Restaurants, die Essenslieferungen anbieten. Wer den Transport nicht selbst organisieren will, zahlt 30 Prozent vom Auftragswert, und dann erledigt einer der etwa 10.000 Lieferando-Kuriere den Job. Wer dort anfangen will, musste bisher die Scoober-App aufs private Smartphone herunterladen; seit kurzem gibt es auch Diensthandys mit einer neueren Version. "Die will der Arbeitgeber mal wieder ohne Mitbestimmung einführen", begründet der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats Semih Yalcin, warum das Gremium die Geräte ablehnt.

So oder so: Die App ortet alle 15 bis 20 Sekunden den Standort der Rider, wie die Kuriere genannt werden, und kontrolliert, ob sie die vorgegebenen Routen einhalten. Wedde sagte bei der diesjährigen Big-Brother-Award-Vergabe, dass der Datenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg die App einer Überprüfung unterzogen habe und die permanente Ortung als "rechtswidrige Beschäftigtenüberwachung" bezeichnet hat. Auch das Bundesarbeitsgericht hat bereits Urteile in diesem Sinne gefällt. Während eine kurz getaktete Feststellung des Aufenthaltsorts bei Geldtransporteuren oder Feuerwehrleuten dem Schutz der arbeitenden Menschen dient, ist eine laufende Kontrolle in anderen Bereichen verboten.

Bei jeder Lieferando-Kurierfahrt werden 39 Informationen erhoben und gespeichert, fand der Bayerische Rundfunk im vergangenen Jahr heraus. Die Kuriere müssen sich am Anfang ihrer Tätigkeit damit einverstanden erklären, dass Daten über sie an Google Analytics und andere Firmen weitergeleitet werden. Viele können gar nicht absehen, was sie da unterschreiben. Der Text ist auf Englisch verfasst und enthält juristische Spitzfindigkeiten, die nur Experten durchschauen. Schon damit widerspricht er der Datenschutzgrundverordnung. Die verlangt eine verständliche und klare Sprache und schreibt das Recht an den eigenen Daten fest. "Der Zweck der Datensammlung ist völlig intransparent, und die Kuriere profitieren auch finanziell nicht davon, dass Informationen über sie weitergegeben werden", kritisiert Yalcin. Offenbar gehe es darum, die Computerprogramme auf immer mehr Effizienz zu trainieren – auf Kosten der Beschäftigen. So wurde die Auftragszuteilung bereits so verändert, dass weniger Bonuszahlungen und Trinkgeld für die Rider herausspringen, mit denen sie ihren Stundenlohn von 11 Euro aufbessern können. Außerdem verleitet die App zu riskantem Fahren. Über tausend Unfälle mit Verletzten soll es 2021 bei Lieferando gegeben haben.

Kann Brüssel helfen?

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Weniger Boni und Trinkgeld für die KuriereFoto: Ben Kriemann/ddp/PIC ONE

Abhilfe könnte bald aus Brüssel kommen. EU-Kommission und EU-Parlament arbeiten an einer Richtlinie, um Plattform-Beschäftigte besser zu schützen. Kommt die Novelle durch, müssten Betreiber erklären, wie sie die Leistung überwachen und was das für die Einsatzplanung und die Verdienstmöglichkeit bedeutet. Dann hätten die Beschäftigten die Möglichkeit, gegen Entscheidungen vorzugehen und wären der Technik nicht länger hilflos ausgeliefert.

Dass es schon heute anders geht, belegen Radler-Kollektive wie Khora in Berlin. Sie nutzen die App Coopycycle, die ein Mann in Belgien entwickelt hat, den alle nur Mex nennen. Coopycycle ist so konstruiert, dass keine Daten heimlich abgesaugt werden können. Außerdem hat Mex mit einer Copyleft-Lizenz festgelegt, dass die App ausschließlich selbstorganisierte Betriebe nutzen dürfen. So ist ausgeschlossen, dass Konzerne sich daran bereichern. In mehreren europäischen Städten sind Kuriere inzwischen damit unterwegs.