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Wenn der Bildungsaufstieg schon an der zweiten Stufe endetLubitz + Dorner/plainpicture

Wie kann es sein, dass immer mehr Kinder eines Jahrgangs studieren und dennoch nicht mehr Chancengleichheit einkehrt? Der Grund liegt in der Wettbewerbslogik und in der Knappheit, denn die Anzahl der Studien- und das Angebot attraktiver Arbeitsplätze wachsen nicht im selben Maße wie die Zahl der Anwärter und Absolventen. In Zeiten verschärfter Bildungskonkurrenz werden damit private Ressourcen wichtiger. Das beginnt bereits in jungen Jahren. Das mehrgliedrige Schulsystem beruht darauf, ganze Bevölkerungsschichten von der Teilhabe an Bildung auszuschließen. Warum sonst sollten bereits Zehnjährige entscheiden müssen, ob sie später einmal Abitur machen oder nicht?

Wer sich entgegen der Wahrscheinlichkeit bis zu Abitur und Studium durchkämpft, hat seine Schäfchen aber noch nicht im Trockenen. Vor bald 20 Jahren etablierte die rot-grüne Bundesregierung in Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren Europas – und dieser traf auch Studierte. Der Kampf um die Arbeitsplätze mit attraktiver Entlohnung nahm zu. Die soziale Herkunft ist seither mehr denn je zum Wettbewerbsvorteil geworden: Und zwar für Menschen mit wohlhabenden Eltern, denen diese Gesellschaft das Versprechen vom kulturellen und ökonomischen Aufstieg durch Bildung einlöste.

Noch zählt das Erbe

Für Leute aus einem nicht-akademischen und materiell armen Elternhaus wiederum ist der Erfolg im Bildungssystem so schwer erreichbar wie für einen Hundertmeterläufer, der mit 20 Meter Rückstand und einer Eisenkugel am Bein ins Rennen starten muss. Der Erbmarkt ist heute wichtiger als der Arbeitsmarkt.

Da bietet sich eine Lösung an: Man erhöhe das BAföG, und schon ebneten sich soziale Unterschiede ein. Doch ist es so einfach? Wer BAföG bezieht, muss es nach dem Ende des Studiums zur Hälfte zurückzahlen, bis zu einer Höhe von 10.000 Euro. Da es fast immer nur während der Regelstudienzeit gewährt wird, die auf Nebentätigkeiten angewiesene Arbeiterkinder selten einhalten können, kommt danach ein verzinstes Volldarlehen in Frage. Der Schuldenberg wächst dann rasch noch einmal um Tausende Euro. Noch nicht eingepreist sind die Kosten, die mehrere Jahre ohne das Einzahlen in die Rentenkasse mit sich bringen.

Wessen Großvater oder Mutter ausreichend Geld beiseitelegen konnte, fängt diese Lücke mit gut angelegten Ersparnissen auf. Alle anderen gucken in die Röhre. Heute, da die Inflation sich der Zehn-Prozent-Marke nähert, müsste das BAföG in dieser Höhe steigen, damit es zumindest nicht zu Verlusten im ohnehin bescheidenen Lebensstandard studierender Arbeiterkinder kommt.

Zudem hat sich trotz der in absoluten Zahlen steigenden Bildungsbeteiligung an der Statik des Systems nichts verändert: Von 100 Kindern, deren Eltern beide ungelernt sind, studieren zwölf. Bei Kindern von Facharbeitern ohne Abitur sind es 24, bei Kindern von Facharbeitern mit Abitur 48. Bei Kindern mit Akademikereltern sind es sogar 79 von 100. Die Investitionen in Bildung und Forschung verharren in Deutschland im internationalen Vergleich auf niedrigem Niveau. Die Ausgaben sind in den vergangenen 25 Jahren zwar gestiegen – 2021 betrugen sie 165 Milliarden Euro. Das auf dem Dresdener Bildungsgipfel 2008 formulierte Ziel, bis 2015 zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts, kurz: BIP, für Bildung und Forschung auszugeben, ist heute fast erreicht – aber nur, weil das BIP durch die Pandemie insgesamt gesunken war. Anlass zu Pessimismus bietet zudem die Schuldenbremse, die Verfassungsrang hat und ab 2023 wieder uneingeschränkt gelten soll.

Grundeinkommen für Studierende

Es wäre ein erster Schritt, sich vom Fetisch der "Schwarzen Null" zu verabschieden und eine Politik der Umverteilung von Oben nach Unten anzustreben. Die Wiedereinführung der 1996 abgeschafften Vermögenssteuer brächte dem Staat ebenso verlässliche Einnahmen wie eine Neukonzeption der Erbschaftssteuer, deren Zahlung aktuell vor allem die reichsten Deutschen dank ganz legaler Steuertricks umgehen können.

Geld ist auch im Studium nicht alles, aber auch hier ist ohne Geld alles nichts. Darum wäre ein Grundeinkommen für Studierende inklusive einer zwischen Staat und Studierenden geteilten Zahlung von Beiträgen in die Rentenkasse überlegenswert. Das käme zwar auch Kindern wohlhabender Eltern zugute, dafür fiele für Arbeiterkinder die Aussicht auf den Schuldenberg weg. Zur Gegenfinanzierung wäre die Einführung einer Akademikersteuer möglich, die alle Absolventen deutscher Universitäten bei Überschreiten eines bestimmten Jahreseinkommens zusätzlich zahlen könnten. Es wäre eine Art Generationenvertrag der akademisch Gebildeten, der sich vielleicht auch um einen Solidarpakt für Arbeiterkinder an Gymnasien ergänzen ließe.

Wer sich um die Finanzierung seines Studiums keine Sorgen machen muss, folgt seinen Neigungen. Wer seinen Neigungen folgt, ist im Erwerbsleben später weniger frustriert – und findet vielleicht sogar die Kraft, sich gewerkschaftlich zu organisieren, um in der Arbeitswelt für dringend nötige strukturelle Verbesserungen zu streiten. Denn je mehr Menschen in die Lage versetzt werden, an der Gestaltung der Zukunft aktiv mitzuwirken, umso friedlicher wird sich die Gesellschaft entwickeln.

Editorial Spezial

Von Kühen lernen

Man lernt nie aus, auch bei der Arbeit nicht. Dabei muss es nicht immer die große Transformation sein, die komplette Umwandlung des Arbeitsplatzes, die neues Wissen oder neue Fertigkeiten erfordert. Die Veränderung von Arbeitsprozessen vollzieht sich oft in kleinen Schritten. Doch auch die müssen sitzen. Sich weiterbilden, lebenslang lernen – es sollte eigentlich Standard sein in der Arbeitswelt. Was Weiterbildung, was Fortbildung, was Bildungsurlaub ist und wer wann darauf Anspruch hat, das haben wir auf den folgenden Seiten zusammengetragen. Und was Kühe damit zu tun haben, die wider ihrem Ruf überhaupt nicht dumm sind, auch darüber berichten wir. Zum Beispiel in einer Reportage über einen Bildungsurlaub in Indien. Denn auch wer reist, bildet sich.

Petra Welzel