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Harald Jähner: Höhenrausch

Das kurze Leben zwischen den Kriegen – Schon wieder ein Buch über die Zwanzigerjahre? Oje. Doch ehe Sie die Lektüre nun ermüdet abbrechen, sei gleich das Urteil gesprochen: Ein so tiefgründiges und brillant geschriebenes Werk hat es über jenes Jahrzehnt sicher noch nicht gegeben. Harald Jähner, der jahrelang das Feuilleton der Berliner Zeitung leitete und 2019 für seine Studie der Nachkriegsjahre den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, hat sich nun der Weimarer Republik genähert – mit dem selbst formulierten Anspruch, eine "Gefühlsgeschichte" dieser Ära schreiben zu wollen. Allein das erfordert Courage inmitten einer Gegenwartshochkultur, die das Gefühl an sich für trivial hält. Doch ist es genau dieser Zugang, der diesen Band mit dem emotionsgeladenen Titel Höhenrausch so lesenswert macht.

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Jähner porträtiert die mythenumrankte Zeit nicht nur am Beispiel der Empfindungen berühmter Menschen wie Friedrich Ebert, Josephine Baker oder Paul von Hindenburg, sondern vor allem anhand scheinbar banaler Alltagsszenen. Für die findet er überraschende Sprachbilder. Wenn er die liebste Freizeitbeschäftigung der Deutschen beschreibt, liest sich das so: "In jedem Verein wurde politisiert; er war der Backofen, in dem latente Gefühle zu harten Überzeugungen reiften." Damit zertrümmert Jähner zugleich einige Klischees, die zuletzt durch porentief sauber anmutende Fernsehserien wie Babylon Berlin zurückgekehrt waren ins Kollektivbewusstsein: Die Zwanzigerjahre als einzige wilde Party? Nun ja, auch die Individualisierung nahm damals ihren Anfang. Für Tänze wie den Shimmy etwa brauchte man keinen Partner mehr. Die Inflation als große Depression? Ja, doch gab es unter den Wohlhabenden nicht wenige, für die nun erst recht fette Jahre anbrachen. Wie nebenbei vermittelt Jähner in seinem Erzählfluss die Thesen von Intellektuellen wie Irmgard Keun oder Siegfried Kracauer, auch wenn vor allem in der Bewertung des Werkes von Rosa Luxemburg ein strenger Antikommunismus des Autors durchschimmert. Besonders verdienstvoll ist aber, dass Jähner schon in der Dramaturgie seines Textes deutlich macht: Die Krisen der Epoche mussten nicht zwangsläufig in die Nazi-Diktatur führen. Wie zu allen Zeiten hätte es auch damals Alternativen zur Barbarei gegeben. So lässt sich beim gebannten Lesen ohne die Hybris des Spätgeborenen auch den verpassten Chancen einer faszinierenden Zeit nachtrauern. Christian Baron

Rowohlt Berlin, 560 S., 28 €

Almudena Grandes: Die drei Hochzeiten von Manolita

Madrid, 1936. Im Spanischen Bürgerkrieg gilt die Metropole als letzte Bastion der Republikaner. Hier ist der Widerstand gegen Francos Putschisten am größten. Die im vergangenen Jahr verstorbene Almudena Grandes führt ihre Leser durch ein literarisches Wimmelbild, durch die Gassen, in die Wohnungen, zu den Künstlerinnen und Schriftstellern, den Revolutionären, Anarchistinnen und Aristokraten Madrids.

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Sie ist ganz nah bei ihnen, unter ihnen, sie beobachtet sie, hört zu, dokumentiert ihren Alltag und erstellt daraus eine faszinierend lebensnahe Collage. Im Mittelpunkt steht Manolita, eine junge Frau, die sich um ihre Geschwister kümmern muss, nachdem ihre Eltern im Gefängnis gelandet sind. Noch wichtiger: Manolita wird zur Botin für die Oppositionellen. Sie schmuggelt Informationen ins Gefängnis, und um leichter dort hineinzukommen, behauptet sie, mit Silverio liiert zu sein, einem Untergrundkämpfer, der Flugblätter druckt, und den sie später tatsächlich heiratet. Rund ein Dutzend Geschichten und Schicksale fließen in diesem großartigen Werk, das bis 1945 spielt, zusammen. Eine vielschichtige Hommage an den Widerstand antifranquistischer Frauen. Günter Keil

Carl Hanser Verlag, Ü: Roberto de Hollanda, 672 S., 30 €

Marlen Horback: Klassenbeste

In den letzten Jahren ist auf dem Buchmarkt eine neue "Klassenliteratur" in Erscheinung getreten. Autor*innen wie Didier Eribon, Annie Ernaux, Anna Mayr oder Christian Baron setzen sich in autofiktionalen Texten mit den Prägungen ihrer Herkunft und ihrer ganz individuellen Aufstiegsgeschichte auseinander.

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Marlen Hobracks Klassenbeste schließt unmittelbar an diese Beschreibungen an und schließt eine Lücke, indem sie eine Figur in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt, die bislang unterrepräsentiert war: die (ostdeutsche) Frau als Arbeiterin. Vor dem Hintergrund der Erwerbsbiographie ihrer Mutter, die in der DDR bereits in jungen Jahren körperlich hart gearbeitet hat, erweitert Hobrack mit ihren Analysen die linken, feministischen Gegenwartsdiskurse um Patriarchat, die zu Unrecht als "weltfremd" verurteilte Identitätspolitik, Mutterschaft und die Frage, welche Allianzen zwischen neuer und klassischer Linker notwendig sind, um substantielle strukturelle Veränderung anzustoßen. Klassenbeste liefert einen enorm wichtigen Debattenbeitrag aus einer vernachlässigten Perspektive und öffnet den Raum, um über Klasse und ihre Einschreibungen in Körper und Biographie neu nachzudenken. Sophie Weigand

Hanser Berlin, 224 S., 22 €