Nürnberg – Am 20. August 2022 war auf der Westseite der Wöhrder Wiese in Nürnberg vielfach von "Geschichtsklitterung" die Rede. Nur ein paar 100 Meter entfernt, am Ostteil des Freizeitgeländes waren mehrere tausend Menschen aus ganz Deutschland zusammengeströmt, um die aktuellen Corona-Schutzmaßnahmen als Bruch mit dem "Nürnberger Kodex" gleichzusetzen und ihn damit zu verunglimpfen. Tatsächlich wurde der Nürnberger Kodex am 20. August 1947 verkündet. In ihm wurde als Teil des Urteils gegen Nazi-Ärzte festgelegt: Bei medizinischen Versuchen mit Menschen ist das Einverständnis der Testpersonen unbedingt erforderlich. Die Geschichtsklitterer geben sich 75 Jahre später als die neuen Opfer, die Versuchskaninchen einer vermeintlichen Zwangsmedizin in Zeiten von Corona. Unter diesen Menschen, die sich selbst als "Querdenker" bezeichnen, waren auch viele, die sich mit ihren Fahnen ganz offen als sehr rechtslastig Denkende zu erkennen gaben.

Weil das zu erwarten war, hatten ver.di in Mittelfranken und verbündete Gruppen zu einer Demonstration nebst eigener Kundgebung sowie "Volks-Uni" auf der Wöhrder Wiese aufgerufen. Unter anderem war die gewerkschaftsnahe "Initiative Gesundheit statt Profit" dabei. Denn im Vorfeld der sogenannten rechten "Gedenkveranstaltung 75 Jahre Nürnberger Kodex" war bekanntgeworden: "Corona-Schwurbler unter Beteiligung der rechten Pseudo-Gewerkschaft ,Zentrum Gesundheit und Soziales' wollen den 75. Jahrestag für ihre Zwecke missbrauchen", so ver.di-Sekretär Ulli Schneeweiß.

Als Verantwortlichen hinter jenem "Zentrum Gesundheit und Soziales" sehen viele Oliver Hilburger. Hilburger kommt aus der Neonazi-Szene und war unter anderem Gitarrist der Rechtsrockband "Noie Werte", sagt Max Gnugesser-Mair, der die Szene der Corona-Schwurbler wissenschaftlich untersucht.

Der Magdeburger Soziologie-Professor und Rechtspopulismus-Forscher Matthias Quent hat sich erst kürzlich im Handelsblatt wie folgt über Hilburger und dessen "Zentrum" geäußert: "Wie viele andere frühere Neonazis versucht er nun unter dem Deckmantel auf den ersten Blick unauffälliger Organisationen weiter rechtsradikale Positionen zu verbreiten. Eine solche Gruppe im Betrieb sorgt für großen Unfrieden." Den bemerkt inzwischen auch die Nürnberger Klinikmitarbeiterin und Gewerkschafterin Anja Schmalzl. "Diese Pseudogewerkschaft vertritt uns nicht", betont sie und sagt: "Die sind rechtsoffen und radikal."

Darüber hinaus: Mitverantwortlich für die rechte Veranstaltung in Nürnberg war Walter Weber aus Hamburg. Der Chef der "Stiftung Ärzte für Aufklärung" wurde erst kürzlich nach eigenem Bekunden "wieder von einer Hausdurchsuchung heimgesucht". Laut Medienberichten soll wegen des Verdachts auf Ausstellung falscher Atteste in 47 Fällen gegen Weber Anklage erhoben werden.

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Sinan Öztürk, stellvertretender Landesbezirksleiter ver.di BayernHeinz Wraneschitz

Verhöhnung der Opfer des Faschismus

Auf der "rechten" Bühne erklärte unterdessen eine Rednerin im Namen des "medizinischen Personals Ortenau: Der Nürnberger Kodex garantiert uns das Recht auf keine Impfung". Die gewerkschaftlich-antifaschistische Seite hielt auf ihrer Bühne einhellig dagegen: "Wer diesen Kodex in einen Zusammenhang mit den heutigen Corona-Maßnahmen bringt, verhöhnt letztlich die Opfer der Nazi-Zwangsmedizin." Unter den Rednern dort waren Vertreter des IPPNW, der Ärzt:innen in sozialer Verantwortung e.V. genauso wie die jüdische Zeitzeugin und Überlebende der Nazi-Zwangsherrschaft Lilo Seibel-Emmerling. Auch Bayerns stellvertretender ver.di-Landesbezirksleiter Sinan Öztürk fand deutliche Worte gegen die Schwurbler auf der anderen Bühne.

Ein Satz der Holocaust-Überlebenden in Sichtweite der rechtsoffenen Querdenker beschreibt gut, was auf der demokratischen Seite wohl alle fühlten: "Ich hatte nie gedacht, dass ich wieder Angst haben muss."

Nürnberger Kodex

Bei medizinischen, psychologischen und anderen Versuchen an Menschen ist "die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson unbedingt erforderlich". So steht es im "Nürnberger Kodex". Diese ethische Richtlinie wurde im Urteil im Nürnberger Ärzteprozess (1946/1947) veröffentlicht. Sie gehört seitdem zu den medizinethischen Grundsätzen in der Medizinerausbildung. Denn in der Zeit des Nationalsozialismus gab es im Namen der medizinischen Forschung Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere "verbrecherische medizinische Experimente" und Zwangssterilisationen. WRA