Ausgabe 08/2022
Die Befreiung der Straße
Man könnte denken, das sei alles nur ein Traum. Wer heute durch die Stadtzentren von Berlin und Hamburg, Stuttgart oder Köln flaniert, die herrliche Luft einsaugt und das bunte Treiben auf den Straßen beobachtet, der kann nicht glauben, was geschehen ist. Dieselben Straßen waren noch vor wenigen Jahren mit Tausenden Autos vollgestopft. Die Blechlawinen hatten das Leben der Innenstädte erstickt, die Menschen auf schmale Gehwege und sogenannte Zebrastreifen verbannt. Die Straße – das war Angst, Beklemmung und Feinstaub, Lärm und Dauerstau, Aggressivität und Dichtestress, Hektik und Lebensgefahr. Das war der Todeskampf um die Parklücke, um die Poleposition an der Ampel. Vorbei!
Die Verkehrswende hatte nach dem Rücktritt von FDP-Verkehrsminister Volker Wissing im Dezember 2024 plötzlich Fahrt aufgenommen. Wissing war gemeinsam mit seinem Parteichef Christian Lindner als CEO in die Führungsetage von Porsche gewechselt, wo die beiden als erste Amtshandlung das Motorengeräusch des neuen Carrera-Modells synchron zum Frequenzgang eines brüllenden Tigers martialisch aufgerüstet haben.
Das Verkehrsressort in der Bundesregierung hatte FDP-Urgestein Gerhart Baum übernommen. Der alte linksliberale Haudegen hatte plötzlich Ernst gemacht mit dem Abbau von Auto-Subventionen. Dienstwagenprivileg, Pendlerpauschale, Dieselsubventionierung – alles zusammen kostete rund 15 Milliarden Euro im Jahr – wurden sukzessive zurückgefahren. Aber vor allem wurde die kostenlose Nutzung öffentlicher Flächen zum Parken radikal abgeschafft. Nachdem bundesweit immer mehr Menschen ihre Tische, Stühle und Sofas, sogar Kühlschränke und Schreibtische draußen auf den Asphalt gestellt hatten, war die "Befreiung der Straße" von den 48 Millionen deutscher Autos zur Massenbewegung geworden.
Die Karlsruher Initialzündung
Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem bahnbrechenden Grundsatzurteil (BVG 24/AZ 1763 cg) festgestellt, dass gemäß Gleichheitsprinzip den Nicht-Autobesitzer*innen die gleiche Straßenfläche zusteht wie den Autofahrer*innen. "Jeder parkende PKW blockiert mit 11 Quadratmetern die Fläche von der Größe eines Kinderzimmers", hatten die Karlsruher Richter vorgerechnet. Und: Der Öffentliche Raum unserer Städte sei zu einem einzigen Parkplatz verkommen; hintereinander abgestellt ergäben die deutschen Autos eine Länge von 250.000 Kilometern. Die auf öffentlichen Plätzen, Straßen und Alleen herrschende Blechflut widerspreche gleich mehreren Grundsätzen unserer Verfassung, so das höchste deutsche Gericht. Zudem würden die Autofahrenden nur einen Bruchteil der von Ihnen verursachten Umwelt-, Sozial- und Gesundheitskosten tragen.
Nach diesem wegweisenden Urteil war kein Halten mehr. Berlin-Kreuzberg avancierte zum Vorreiter mit internationaler Beachtung. Als erste Kommune in Deutschland wurde dort der von stehenden Autos verstopfte öffentliche Raum vollständig befreit. Die Fahrzeuge müssen jetzt auf einem gebührenpflichtigen unterirdischen Mammutparkplatz am Tempelhofer Flughafen abgestellt werden. In Kreuzberg fahren seit Oktober 2025 nur noch kleine Car-Sharing-Fahrzeuge, Taxen, Busse, Rettungs-, Handwerker- und Logistikfahrzeuge. Natürlich mit Tempo 25 im gesamten Bezirk. Dazu ein paar Flugtaxis und die Paketdronen der Zustelldienste.
Da lacht der Asthmatiker
Sofort ist das urbane Leben zurückgekehrt. Die Straße ist jetzt wieder Treffpunkt, Spielplatz, Tummelplatz, Versammlungs- und Diskussionsort, Aufenthaltsraum, ein Platz der Begegnung. Und die Menschen genießen die Fortbewegung aus eigener Muskelkraft zu Fuß oder per Fahrrad. Die Geschäfte sind mit steigenden Umsätzen sichtlich aufgeblüht, die Grünflächen explodieren vor Wachstumsfreude, auch die Kriminalität ist zurückgegangen. Vor allem aber haben sich die klimaschädlichen Emissionen dramatisch verringert. Selbst Asthmatiker joggen jetzt vergnügt durch die Gassen. Und die Demonstrationszüge empörter Automobilisten sind immer kleiner und leiser geworden, bis sie schließlich ganz verschwanden.
Schnell hat sich das Befreiungsvirus auch auf benachbarte Bezirke und andere deutsche Städte ausgebreitet. Selbst aus Japan und Singapur, aus Mexiko und Indien waren Verkehrsplaner nach Kreuzberg gereist, um die befreiten Straßen mit eigenen Augen zu inspizieren. "Amazing, really amazing this german traffic-wonderland", schrieb die Indian Times.
Noch 2022 war alle 23 Minuten ein Kind unter 15 Jahren in Deutschlands Straßenverkehr verunglückt. Die inzwischen 671 deutschen Kommunen mit befreiten Straßen melden dagegen nur noch wenige Unfallopfer mit meist glimpflichen Verletzungen. Allerdings hat sich die Zahl der Hundebisse leicht erhöht, seitdem auch die Vierbeiner ausgelassen durch die Straßen flitzen.
Bundeskanzler Robert Habeck (Grüne) hat sich schnell an die Spitze der Straßenbefreiungsbewegung gestellt. Zu stark war die Power dieses Massenaufstands gewesen, zu überzeugend das neue soziale Klima in den befreiten Innenstädten, als dass die Politik sie ignorieren könnte. Für die leidende Automobilindustrie und ihre Beschäftigten hat die Bundesregierung ein Sondervermögen mit vierteljährlichen Turbo-Abschlagszahlungen eingerichtet. Suchtkliniken halten für den Entzug von Autojunkies spezielle Fahrerkabinen bereit, wo während der Entwöhnungskur Autorennen in Echtzeit simuliert, und auf die Windschutzscheibe projiziert werden. Menschen mit "Benzin im Blut" werden dort zur Ader gelassen.
Inzwischen reagiert auch die Sozialwissenschaft, erste Studien liegen vor. Nach Daten des Wissenschaftszentrums Berlin haben sich die Gesundheitskosten entlang befreiter Straßen mehr als halbiert. Auf dem nach oben offenen Glücksbarometer wurden zuletzt bei den Anwohnern Spitzenwerte erreicht, die dem Gewinn einer Fußball-Weltmeisterschaft entsprechen. "Im Rückblick betrachtet ist es unfassbar, dass wir zu diesem Befreiungsschlag so spät ausgeholt haben", erklärte Verkehrsminister Baum beim deutschen Verkehrsgerichtstag in Goslar. Schockierende Videoaufnahmen von den alten Zuständen vor der Straßenbefreiung sind im Horrorkabinett auf dem Gelände der früheren Frankfurter IAA zu besichtigen. Der Eintritt ist frei.