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Gesundheitsforschung – noch immer klaffen Datenlücken in Medizin und Forschung über das weibliche GeschlechtFoto: Brookes/Westen 61/picture alliance

Die Bikini-Medizin

Ein plötzliches Stechen in der Brust, dazu Engegefühl und kalter Schweiß. So beschreibt ein Freund die typischen Symptome eines Herzinfarkts. Stolz fügt er hinzu, dass er erst vor wenigen Monaten einen Erste-Hilfe-Kurs besucht habe. Er ist sich seiner Sache sicher. Wenn ein Mensch einen Herzinfarkt erleidet, sind das die eindeutigen Symptome. Dass die wesentlich komplexer sind – insbesondere bei Frauen, und deswegen häufig auch übersehen werden – wissen nur die wenigsten. Anzeichen für einen Infarkt sind bei ihnen eher Rückenschmerzen, Übelkeit, Schmerzen im Oberbauch, Ziehen in den Armen und starke Müdigkeit.

Die vermeintlichen Symptome sind ein Resultat der sogenannten Bikini-Medizin, die auf der falschen Annahme beruht, dass sich die Gesundheit der Frauen nur in den körperlichen Bereichen von dem der Männer unterscheidet, die von einem Bikini bedeckt werden. Die Folgen dieser Wissenslücke: Obwohl Männer ein höheres Risiko für eine Herzerkrankung haben, liegt die Sterblichkeit der Frauen bei den meisten Herzerkrankungen über der der Männer.

Medikamente nach Prinzip Pi mal Daumen

In der Medizin und in der Forschung sind Männer der Standard. An ihnen wird geforscht, werden Medikamente getestet – entsprechend sind Behandlung, Dosierung und Therapien auf sie zugeschnitten. Das biologische Geschlecht und damit eine unterschiedliche Anatomie, andere Hormone und auch psychosoziale Faktoren beeinflussen, wie wir erkranken. Frauen müssen entsprechend anders behandelt werden.

Problematisch ist nach wie vor das riesige Datenleck zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in Wirksamkeit und Verträglichkeit von Medikamenten. Lange Zeit wurde in medizinischen Studien der Einheitsmensch untersucht. Jung, weiß und männlich. Die Ergebnisse wurden einfach auf den Rest der Bevölkerung übertragen und die Dosierungen für Medikamente angepasst.

Mittlerweile geben mehrere Studien Hinweise darauf, dass die üblichen Leitlinien-Dosierungen von Medikamenten für Frauen zu hoch sind. Erst seit den 1990ern existiert eine US-Richtlinie, die verlangt, dass Medikamente in klinischen Studien auch an Frauen getestet werden müssen. Doch bis heute stimmt das Geschlechterverhältnis nicht. Zwar scheint sich in den letzten Jahren eine gewisse Bemühung abzuzeichnen, hin zu mehr geschlechtsspezifischen Untersuchungen, doch zeigen aktuelle Analysen, dass Frauen in klinischen Studien nach wie vor deutlich unterrepräsentiert sind.

Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung gibt Anlass zur Hoffnung. Darin heißt es: „Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden.“

Dennoch fordert der Deutsche Ärztinnenbund die Bundesregierung in einem offenen Brief mit Nachdruck auf, dass die Datenlücke geschlossen wird. Man sollte künftig Studien so auslegen, dass Ergebnisse für Männer und für Frauen formuliert werden können.

„Damit die Defizite der Daten- und Studienlage durchbrochen werden, brauchen wir im Bereich der Forschung und Entwicklung eine Sensibilisierung für Differenzierungen nach biologischem und sozialem Geschlecht. Dazu sollten bereits Ausschreibungen und Studien so gestaltet werden, dass Daten zwingend geschlechtsspezifisch zu erheben sind und eine qualifizierte geschlechtsspezifische Analyse a priori im Studienprotokoll vorgesehen ist“, schreibt der Ärtztebund.

KI in der Diagnostik

Längst haben auf Künstliche Intelligenz (KI) basierende Gesundheits-Apps Einzug in unseren Alltag gefunden. In Berliner U-Bahnen wirbt die Diagnose-App „Ada” mit einer besseren und günstigeren Gesundheitsversorgung. Die User*innen füttern die App mit verschiedenen Daten und beantworten Fragen zu ihren Beschwerden. Die App macht auf Grundlage von eingetragenen Symptomen und ihrem ­Abgleich mit einer Datenbank ­Diagnose- und Therapievorschläge. Eine große Chance, die sich durch neue Technologien unter der Beteiligung von Big Data und KI ergibt und die die Verarbeitung sowie die Auswertung von vorhandenen Daten möglichst vieler Menschen erfordert. Doch was, wenn eben diese Schlüsseldaten nicht oder nur mangelhaft erhoben wurden?

Denken wir nur einen Schritt weiter Richtung Digitalisierung der Daten sowie der Verwendung dieser für Gesundheits-Apps und Anwendungen Künstlicher Intelligenz, wird die Dringlichkeit hinter den Forderungen noch deutlicher. Das weiß auch Barbara Susec, ver.di-Expertin für Digitalisierung im Gesundheitswesen: „Frauen und Männer reagieren oft unterschiedlich auf eine Therapie, so dass der Gender Data-Gap schnell zum Problem wird, wenn zum Beispiel in der ­medizinischen Forschung Studien zu neuen Medikamenten überwiegend mit männlichen Probanden durchgeführt werden.”

Ein ähnliches Problem entstehe dann, so Susec, wenn es darum ginge, Daten für das Training von auf maschinellem Lernen basierender KI zu verwenden. „Werden hierfür Daten benutzt, in denen die Geschlechter ungleich berücksichtigt oder differenziert werden, so kann daraus ein Geschlechter-Bias resultieren, der oft sehr schwer erkennbar ist. Für Frauen wird dieser Gender Data Gap zur Folge haben, dass sie in der digitalen Welt mit den gleichen Vorurteilen, Stereotypen und – im schlechtesten Fall – Nachteilen bis hin zu mangelhaften ­Diagnosen konfrontiert werden wie in der analogen Welt“, warnt Susec.

Gerade jetzt, mit zunehmender Digitalisierung im Gesundheitswesen, ist es daher besonders wichtig, alte Fehler und verzerrte Ergebnisse nicht zu reproduzieren und zu zementieren.

Gender-Data-Gap – was ist das?

Der Gender-Data-Gap bezeichnet die ­Lücke und die mangelnde Erhebung von Daten für ein bestimmtes Geschlecht bei medizinisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich relevanten Fragen. Für den medizinischen Bereich fordern Expert*innen, dass sich das Geschlechterverhältnis bei Erhebungsverfahren wie beispielsweise von Studienteilnehmer*innen für Medikamentenzulassung an der tatsächlichen Geschlechterverteilung der Krankheiten orientiert. Das relativ junge Feld der Gendermedizin schenkt den biologischen sowie psychosozialen Unterschieden von Männern und Frauen besondere Beachtung. Korrekterweise könnte man sie auch als sex- und gendersensible Medizin bezeichnen. Denn sie beleuchtet auch die vielfältigen sozialen Geschlechterrollen.