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Lauter Schlingen – so sieht das Mikrobiom in unserem Darm in zigfacher Vergrößerung ausFoto: Gschmeissner/Science Photo Library

ver.di publik: Sie haben ein Buch geschrieben, was unser Mikrobiom mit Krankheiten zu tun hat. Was ist das Mikrobiom?

Richard Lucius: Der Mensch lebt nicht für sich allein, sondern ist besiedelt von Billionen Bakterien und anderen Mikroorganismen. Die Gesamtheit dieser Bewohner bezeichnet man als Mikrobiom. Allein im Darm eines Erwachsenen bringen sie es zusammen auf ein Gewicht von etwa einem Kilogramm. Sie produzieren Substanzen, die der Körper benötigt, und regulieren unser Immunsystem, indem sie Entzündungen dämpfen. Ein gestörtes Mikrobiom kann Entzündungskrankheiten begünstigen wie etwa Allergien, chronische Darmentzündungen oder Multiple Sklerose.

Viele Zusammenhänge werden erst jetzt erforscht. Warum nicht früher?

Dass es Bakterien, Viren und Parasiten im menschlichen Körper gibt, ist schon lange bekannt. Aber erst in den vergangenen zehn Jahren wurden die DNA-Sequenzierungsmethoden so effizient, dass sich bestimmen lässt, was da alles in uns lebt. Schon über tausend Arten sind nachgewiesen. Es gibt Konkurrenzen und Kooperationen, manche Arten ergänzen sich oder liefern sich Stoffe zu. Im Grunde muss man sich das vorstellen wie einen Wald mit seinen vielen verschiedenen Pflanzen, Tieren, Pilzen und Kleinorganismen.

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Richard LuciusFoto: privat

Und dieser "Wald" befindet sich wo?

Auf der Haut ist die Vielfalt unseres Mikrobioms recht gering, weil es da salzig und trocken ist. Schleimhäute und vor allem der Darm dagegen sind gute Lebensräume fürs Mikrobiom. Herausragend ist der Dickdarm, wo die Verdauung von pflanzlichen Reststoffen stattfindet, die im Dünndarm nicht verarbeitet werden können. Das Mikrobiom im Dickdarm ernährt sich von diesen Ballaststoffen und liefert uns im Gegenzug Energie und lebensnotwendige Substanzen.

Ungefähr die Hälfte der Lebensmittel im Supermarkt sind heute hochverarbeitete Produkte – Fertiggerichte, Energy Drinks, Backmischungen, Kekse oder Fruchtjoghurt. Wie wirkt sich diese Ernährungsweise auf unser Mikrobiom aus?

Diese Lebensmittel enthalten sehr viel Zucker, Salz und schlechte Fette, aber wenig Ballaststoffe. Genau die aber braucht das Mikrobiom im Dickdarm, um gut leben und arbeiten zu können. Wenn zu wenig pflanzliche Fasern und Ballaststoffe im Dickdarm ankommen, dann hungern viele für uns nützliche Organismen und greifen die Schleimschicht des Darms an, um sich davon zu ernähren. Außerdem können Arten überhandnehmen und nützliche Bakterien verdrängen.

Was sind die Folgen?

Es besteht eine erhöhte Gefahr, dass Krankheitserreger die ausgedünnte Darmbarriere durchdringen und chronische Entzündungen verursachen. Wenn das Immunsystem auf diesem Weg in Kontakt mit Darmbakterien kommt, können außerdem Immunantworten entstehen, die körpereigene Strukturen angreifen. Das ist etwa bei Multipler Sklerose oder Rheumatoider Arthritis der Fall. Ein weiteres Problem: Hochverarbeitete Lebensmittel sättigen nicht langfristig. Ihre Kalorien sind sehr leicht zugänglich, werden sofort ins Speicherfett verschoben und machen dick. Fettzellen produzieren aber entzündungsfördernde Botenstoffe, die Krankheiten begünstigen. Komplexe Nahrung wie Vollkornbrot oder Gemüse wird dagegen weiter unten im Dünndarm verdaut und stößt Hormonkreisläufe an, die zu mehr Sättigungsgefühl führen.

Über 300 Zusatzstoffe in Lebensmitteln sind erlaubt. Wie wirken die aufs Mikrobiom?

Das Problem ist, dass viele dieser Stoffe vor langer Zeit zugelassen wurden, als man über das Mikrobiom kaum etwas wusste. Viele sind harmlos, aber manche verursachen bei Tieren und Menschen nachweisbar Schäden am Mikrobiom. Ein Beispiel ist Carboxymethylcellulosen (CMC). Das ist ein Stoff, der Wasser und Fett verbindet. Man setzt ihn zum Beispiel für Mayonnaise oder Süßspeisen ein, damit sie sich bei längerer Lagerung nicht in ihre Bestandteile zerlegen. Verabreicht man Menschen CMC in Mengen, die in Lebensmitteln vorkommen, entwickeln manche Darmentzündungen.

In Deutschland leiden mehr als 25 Millionen an allergischen Erkrankungen. Gibt es Zusammenhänge mit dem Wohlbefinden ihres Mikrobioms?

Ganz sicher, auch wenn die genauen Zusammenhänge noch nicht klar erforscht sind. Wie auch bei anderen Entzündungskrankheiten ist bei betroffenen Menschen die Artenvielfalt des Mikrobioms reduziert. Ein artenreiches Mikrobiom schützt vor allergischen Erkrankungen.

Sind Allergien also Zivilisationskrankheiten?

Ja. Eine Schweizer Erhebung aus dem Jahr 1926 stellte fest, dass damals ein Prozent der Bevölkerung an Heuschnupfen litt, heute sind etwa 20 Prozent betroffen. Überall wo sich der westliche Lebensstil ausbreitet, nehmen Allergien, chronische Darmentzündungen, Schuppenflechte und andere Krankheiten zu, die auf Überreaktionen des Immunsystems auf im Grunde banale Stoffe wie Pflanzenpollen beruhen. Andersherum gilt: Kinder, die auf einem Bauernhof mit Tieren aufwachsen, leiden im späteren Leben seltener unter Asthma und Neurodermitis als andere.

Was genau verstehen Sie unter westlichem Lebensstil?

Der westliche Lebensstil hat sich bei uns seit den 1960er Jahren ausgebreitet. Vorher wurde ein Großteil der Nahrung mehr oder weniger selbst produziert, viel gekocht und Gemüse oft im Garten angebaut. Die zunehmende Arbeitsteilung hat dazu geführt, dass viele Lebensmittel als Fertig- oder Vorprodukte gekauft und häufig in der Mikrowelle warm gemacht werden. Hinzu kommt ein Mangel an Bewegung und Naturkontakt. In unserer modernen Lebensweise sitzen wir immer mehr in Innenräumen. Körperliche Arbeit ist weitgehend durch Bildschirmarbeit ersetzt worden und kaum jemand hat Kontakt mit Pflanzen, Tieren und Boden.

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Foto: Verlag

Wie sieht es in Weltgegenden aus, die als weniger entwickelt gelten?

Sogenannte Naturvölker, die heute noch sammeln und jagen, haben eine 60 Prozent höhere Vielfalt des Mikrobioms als die Bewohnerinnen und Bewohner der USA. Das liegt daran, dass sie vielfältige Nahrung zu sich nehmen und viel mehr Naturkontakt haben. Sobald in einer Region der westliche Lebensstil Einzug hält, ändert sich das. Selbst in entlegenen Dörfern in Papua-Neuguinea hat man beobachtet, dass mit der Verbreitung "moderner" Lebensmittel allergische Erkrankungen zunahmen.

Interview: Annette Jensen

Prof. Dr. Richard Lucius, Die Kraft unseres inneren Ökosystems – Wie das Mikrobiom die Immunantwort steuert und Entzündungen vorbeugt, Scorpio-Verlag, 319 S., ISBN 978-3-95803-440-2, 24 Euro, E-Book 18,99 Euro