Julia Huschenbett hat gleich zwei Mal Neujahr gefeiert. Die erste Silvester-Party stieg bereits am 16. Dezember vergangenen Jahres in Jena, dort wo sie lebt. Bei einer 38,5-Stunden-Woche, wie sie in vielen Universitätskliniken üblich ist, wäre das Arbeitsjahr nämlich genau an diesem Tag beendet gewesen. Zu den Programmpunkten der vorgezogenen Silvesterfeier gehörte ­neben Sekt-Anstoßen, Glückskekse-Öffnen auch der Start einer Unterschriftenaktion. Diese begann parallel auch in Rostock und Greifswald. Denn an diesen drei ostdeutschen Landesunikliniken werden noch 40 Stunden in der Woche gearbeitet. In den 13 anderen Landesunikliniken Deutschlands ist die 38,5-Stunden-Woche per Tarifvertrag der Länder längst umgesetzt. Nach 32 Jahren deutscher Einheit sollen einheitliche Arbeitszeiten endlich auch bei ihnen selbstverständlich sein.

„Das wird bei uns bald umgesetzt“, ist sich Julia sicher. „Gleiche Arbeitszeit bei gleichem Lohn“ lautet die Forderung, die die Anwesenden und Julia am 16. Dezember unterschrieben haben. Konkret bedeutet das: 1,5 Stunden pro Woche ­weniger arbeiten, 6 Stunden im Monat mehr frei, 10 Tage mehr Freizeit im Jahr, 437 Tage auf ein Arbeitsleben gerechnet. 87 Stunden Arbeit mehr im Jahr entsprechen zudem auch 3,75 Prozent weniger Gehalt. Rechnet man das auf die mehr als 6.700 Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten an den drei Unikliniken hoch, kommt eine unvorstellbar große Summe zusammen. Die sich vor allem die Arbeitgeber sparen.

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Julia HuschenbettFoto: Ingmar Björn Nolting

Eine starke Stimme

Wie selbstverständlich wertet Julia, die 35 Jahre jung ist, die derzeitige Situation als „große Ungerechtigkeit, die schnell aus der Welt muss“. Der Jenaer ver.di-Sekretär Philipp Motzke lobt Julias Einsatz für die 38,5-Stunden-Woche sehr. Sie sei eine starke Stimme für die Gewerkschaft im Betrieb. „Sie versteckt sich nie, wenn es sich um betriebliche Belange dreht.“ Auch bei Tarifauseinandersetzungen könne man immer auf sie zählen. Auf Station habe sie immer ein offenes Ohr für die anderen Beschäftigten. „Julia weiß, wo die Probleme liegen, kann sie gewerkschaftspolitisch einordnen und an einer kollektiven Lösung arbeiten.“ Die Ungleichbehandlung durch die Arbeitszeit zwischen Ost und West sei ihr wirklich ein wichtiges Anliegen. „Ihre Ideen helfen uns, das Thema zu setzen. Es ist ihrem Aktionismus zu verdanken, dass ver.di in der Sache ein deutliches Stück weitergekommen ist“, sagt Motzke.

Viel Lob für eine junge Beschäftigte, Mutter und Lebenspartnerin. Doch die strohblonde Thüringerin weiß schon lange, wie sie Arbeitgebern die Stirn bietet. „Ich stamme aus einer Gewerkschaftsfamilie, sagt sie. Mit klaren und unmissverständlichen Worte erzählt sie vom Vater, der als Kranführer langjähriges Mitglied der IG Bau ist. Seit 2006 ist sie selbst Gewerkschaftsmitglied, 2019 während der Tarifrunde der Länder im Öffentlichen Dienst wechselt sie von der IG BAU zu ver.di. Mutter und Bruder engagieren sich ebenfalls in der Gewerkschaft. In Julias Augen bedarf es dazu nicht vieler erklärenden Worte oder gar Mut. Für sie ist ihr Einsatz für die Rechte der Kollegen selbstverständlich.

Menschen helfen

Früh war da auch der Wunsch nach einer Arbeit mit Menschen. Das Freiwillige Soziale Jahr im nahegelegenen Hummelshain bestärkt Julia in ihrer Idee, sich in der Gesundheits- und Krankenpflege ausbilden zu lassen. Als prägend zählt sie ihre Ausbildung zur Sozialassistentin in Gera und zur Gesundheits- und Krankenpflegerin in Bayern auf. Anschließend kehrt sie in ihre Heimat Thüringen zurück und schlägt im Frühling 2011 in Jena ihre beruflichen Zelte auf. „Die Zeit vergeht so schnell“, sagt die Pflegerin und blättert kurz im Kopf in ihren Jenaer Berufsjahren. Ihre ersten zwei Arbeitsstationen Neurochirurgie und Geriatrie befinden sich im Herzen der Universitätsstadt. „Ich habe unter anderem mit Wachkoma-Patienten und in der Altersmedizin gearbeitet, mit alten Menschen.“

Aufgaben auf Stationen mit Kinder- und Jugendanteil gestalten sich für sie, inzwischen selbst Mutter, schwieriger. Dann klopft das Leben direkt an ihre Seele. ­Momentan arbeitet die Pflegefachfrau in Jena-Lobeda auf der A 330 in der Infektiologie und Gastroenterologie. Wieder folgen gleich die Erklärungen: „Auf diesen Stationen liegen Corona-Patientinnen und Patienten, die an Magen-Darm-­Erkrankungen leiden.“

Zu ihren Aufgaben gehören die Verabreichung von Medikamenten und das Wechseln von Infusionen. Sie leitet Beratungsgespräche und kümmert sich um die ordnungsgemäße Dokumenten­pflege. In den Unterlagen trägt sie die Vital­werte (Blutdruck, Puls, Temperatur, Blutzucker) des Patienten ein und kontrolliert sie regelmäßig. Die allgemeine Krankenbeobachtung liegt in ihrer Verantwortung.

„Alles in Vollschutz-Montur“, sagt Julia. Dazu gehören Maske, Haube, Brille und Kittel. In Erinnerung bleiben die Momente, wenn die „Patienten wieder hergestellt zu sich selbst finden“, sagt sie. Wenn sich Patienten bei ihr bedanken, freue sie sich besonders. Häufig sagen die Patienten dann zu Julia Huschenbett: „Schön, dass Sie mich ausgehalten haben, als ich anders war.“

Als alles still war

Wie jede und jeder andere im Land hat auch Julia ihr „Corona-Mäntelchen“ zu tragen. „Auf einmal war alles still“, erinnert sie sich. Als alleinerziehende Mutter gestartet, öffnet Julia ihrem Partner die Tür ihrer 4-Raum-Wohnung in Jenas Innen­stadt. Sie leben nun wieder in einer dreiköpfigen Familie. Unumstrittener ­Lebensmittelpunkt ist die heute 6-jährige Tochter, die im letzten Spätsommer in die Vorschule kam. „Auch wir mussten erst einmal Wege finden, um die täglichen Arbeitsaufgaben unter diesen neuen Bedingungen zu koordinieren.“ Zumal ihre Tochter damals mal mehr und mal weniger in die Not-Betreuung gehen musste.

Täglich veränderte Situationen auf den Stationen, sie muss wieder Vollzeit arbeiten – wegen der Tochter hatte sie reduziert –, Krankheiten und Quarantäne in der Familie und in der unmittelbaren Nachbarschaft ­stellen die kleine Familie vor ungeahnte Herausforderungen.

Mit gemischten Gefühlen denkt Julia an die Corona-Zeit zurück: Sie freute sich jeden Tag über die damals umdekorierten Zimmer, die Inhalte der vielen gelesenen Bücher (meist Kurzgeschichten, die positiv enden), die große Unterstützung der Familie, vor allem der Nachbarn, die trotz der strengen Corona-Maßnahmen uneigennützig halfen. „Im Haus war es ein Geben und Nehmen. Wir lernten uns kennen und konnten uns auf die Nachbarn verlassen.“

Es reifen aber auch neue Prioritäten, die – sobald es die Arbeitssituation ­erlaubte – wieder in einer 30-Stunden-Woche münden. Die Teilzeit ist ihr dank Kindergeld und Vaterunterhalt möglich, schafft wichtigen Abstand zur Arbeit und ermöglicht ein Freizeitcluster für die ­Familie, insbesondere für die Tochter. Trotz der verkürzten Wochenarbeitszeit arbeitet die Pflegerin in den Früh-, Spät- und Nachtdiensten acht Stunden, um dann länger im Freizeitmodus zu verbleiben. Die richtige Balance zwischen Arbeit, Freizeit und Familie scheint gefunden. Auch der Fakt, dass die Befristung der ­Arbeitszeit jährlich auf dem Prüfstand ist, gefällt der jungen Angestellten.

An einem Strang ziehen

„Unsere Dienstpläne liegen immer im Zwei-Monats-Turnus vor“, sagt Julia und ist froh darüber, dass sie bereits Mitte ­Januar die geplanten März-Schichten einsehen kann. Auf dem Handy macht sie den Schichtplan auf und erklärt, dass innerhalb ihres eingeschworenen Teams immer auch kurzfristige Wechsel möglich sind. Sie ziehen da an einem Strang.

Die Kolleginnen und Kollegen hingegen zu einer Unterschrift unter die ver.di-Forderung zu bewegen, sei oft nicht einfach, sagt Julia. Zwar haben über 300 Uni­klinik-Beschäftigte bereits an der von ver.di im Dezember initiierten Silvesterparty ihr Interesse bekundet, doch die „Urangst“, den Arbeitsplatz zu verlieren, wenn man sich beteiligt, ist immer allgegenwärtig.

Dabei geht’s nicht allein um die Wochenarbeitszeit. Trotz des bereits 2019 durchgesetzten Entlastungstarifvertrags in Jena müssen die Betreuungsschlüssel oder Personalbemessungsgrenzen im Universitätsklinikum immer wieder überprüft werden. Nach wie vor können die Pflegekräfte auf den Intensiv-, Normal- und Überwachungsstationen ihre Arbeit oftmals nur mit größter Kraftanstrengung leisten.

Um die vielen offenen Baustellen weiß die Gewerkschafterin in Julia. Sie knüpft Erwartungen daran: „Die Menschen sollen aufwachen, aufmerksam werden und endlich was tun. Bessere Arbeitsbedingungen schaffen ein angenehmeres ­Klima auf Arbeit und zuhause. Es würde auch eine wirkliche Wertschätzung unserer Arbeit bedeuten.“ Und deshalb steht Julia, die Pflegefachkraft, jetzt ganz vorne, um Kolleginnen und Kollegen an die Hand zu nehmen und für die längst fällige 38,5-Stunden-Woche in den letzten drei Landesunikliniken Deutschlands zu streiten. Und natürlich, um zu gewinnen.