Ausgabe 06/2023
Mit Taschentuch im Plenum
Am Ende wurde es noch einmal emotional. Die Delegierten des 6. Ordentlichen ver.di-Bundeskongresses saßen teils schon neben ihren gepackten Koffern, als sich die Antragskommission ein letztes Mal zurückzog, um sich über ihre Empfehlung zum Antrag S025 der Bundesfrauenkonferenz zu beraten. "LSBTIQ*-Personen schützen und sichtbar machen" hatten die Frauen gefordert, die Antragskommission hatte die Ablehnung empfohlen. Doch am späten Freitagnachmittag entspann sich zu dem Antrag eine aufwühlende Debatte, vor allem Mitglieder des Bundesarbeitskreises (BAK) Regenbogen forderten eindringlich und aus nachvollziehbaren Gründen ihre Anerkennung als Personengruppe. Ein eigenes Antragsrecht war ihnen besonders wichtig. Und es geschah, was nicht abzusehen war: Die Antragskommission änderte ihre Empfehlung auf Annahme.
Queer in ver.di
Ein Meer von Regenbogenfahnen schwebte über dem Kongress, als schließlich das Abstimmungsergebnis auf der riesigen Anzeigetafel erschien: Knapp drei Viertel der Delegierten stimmten für den Antrag. Der Bundesvorstand ist nun damit beauftragt, über Umfang und Konzeption einer Strategie zu beraten, wie ver.di sich gesamtgesellschaftlich gegen Gewalt gegenüber LSBTIQ* positionieren kann. Und dem BAK Regenbogen wird der Status als Personengruppe gewährt.
Claudia Schulz, Delegierte aus Hamburg und seit vielen Jahren im BAK Regenbogen engagiert und um die Anerkennung der queeren Menschen in ver.di als Personengruppe bemüht, traute ihren Augen nicht, hielt sich vor der ersten Reihe stehend fassungslos die linke Hand vor den weit geöffneten Mund, während sie ihre Regenbogenfahne mit der rechten versuchte zu halten. Tränen der Freude schossen ihr in die Augen. Es dauerte nur Sekunden, bis sie sich mit ihren Mitstreiter*innen in den Armen lag und der gesamte Kongress sich erhob und lang anhaltend klatschte.
Über Grenzen hinaus
Es war das von Gefühlen überbordende Ende eines Kongresses, der jeden Tag von vielen Emotionen geprägt gewesen ist. Oft in der Antragsdebatte, in der es noch nie so viele persönliche Erklärungen gegeben hat wie auf diesem Bundeskongress. Und auch dieser Kongress lebte von etlichen Aktionen. Zu Beginn enterten streikende Kolleg*innen aus dem Handel die Bühne und brachten die Delegierten noch vor den Wahlen mit einer Michael-Jackson-Perfomance so richtig in Schwung.
Besonders berührte die ver.di Jugend mit zwei ihrer Aktionen. Sie forderten Solidarität mit den Frauen im Iran und berichteten von ihrer Patenschaft, die sie für Nasrin übernommen haben. Schon 2019. Damals wurde die junge iranische Gewerkschafterin auf einer 1. Mai-Kundgebung in Teheran festgenommen und zu sieben Jahren Haft und 74 Peitschenhieben verurteilt. Im Plenum und auf der Bühne gingen hunderte Schilder hoch mit der Aufschrift "Frau Leben Freiheit" in verschiedenen Sprachen, um Solidarität mit den protestierenden Frauen im Iran einzufordern, formuliert im Antrag G008.
Zum Taschentuch griffen nicht wenige Delegierte, als Matti mit anderen ver.di Jugendlichen die Bühne betrat und mit sehr persönlichen Worten über seine Depressionen berichtete, die es ihm oft schwer machten, sich zur Arbeit zu motivieren. Mit dem Antrag A153 "It's ok not to be ok" fordert die ver.di Jugend, psychische Erkrankungen ernst zu nehmen und nicht zu stigmatisieren. Denn es gebe Wege, Betroffenen zu helfen, allein dadurch, ihnen zu vermitteln, dass sie nicht allein sind. Matti sagte, dass es ihm auch an den Kongresstagen manchmal schwerfalle, pünktlich auf der Matte zu stehen, aber da immer jemand sei, der ihn in den "Arsch" trete, was ihm ungemein helfe, hochzukommen.
Die oft langen und zähen Antragsdebatten, das mühsame Ringen um gemeinsame Positionen, überragten schnell die feierliche Eröffnung, mit der der Kongress am Sonntagmittag des 17. Septembers begonnen hatte. Die Eröffnungsreden des Bundeskanzlers Olaf Scholz, SPD, und der Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Yasmin Fahimi, gerieten schnell ins Vergessen.
Doch während Scholz Rede zeigte sich schon, dass Protestaktionen zur DNA von ver.di gehören. Rund 30 Delegierte standen auf, während er sprach, sie trugen weiße bedruckte T-Shirts und hielten Transparente hoch mit Aussagen wie "Schluss mit Aufrüstung", "Bildung statt Bomben" oder "Rente statt Raketen". Scholz ließ die Aktion nicht unkommentiert. "Vielen Dank für die schönen Transparente" sagte er, um dann zu erklären, dass es keine Antwort sein könne, der Ukraine zu sagen, verhandelt, statt euch zu verteidigen, wenn Panzer auf sie zurollten.
Kompromissbereit
Applaus bekam er dafür nicht von allen, sehr wohl aber für sein Versprechen für mehr Tarifbindung zu sorgen. Das unterstrichen auch der Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Bündnis 90/Die Grünen, und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, als sie beide am Kongressmittwoch zu den Delegierten sprachen. Heil gab den Delegierten mit auf den Weg: "Man darf in einer Demokratie niemals Kompromiss für ein Schimpfwort halten."
Kompromisse wurden etliche gemacht auf diesem Bundeskongress, aber auch immer wieder das Band der Solidarität gespannt. Und das nicht nur am Ende. Schon auf der Eröffnungsfeier wurde es weit ausgeworfen. Mit dem Reggae-Stück "Get up, stand up, don't give up your fight" begann und endete die Eröffnungsfeier. Aus der ganzen Welt wurden Musiker*innen zugeschaltet, unter anderem eine Gitarristin aus Esfahan im Iran und eine Cellistin aus Kiew in der Ukraine, Frauen aus den Ländern, in denen Frauen aktuell täglich um Leib und Leben fürchten müssen, weil sie sich für ihre Rechte einsetzen.
Frei nach dem Motto des Kongresses "Morgen braucht uns" wurde durch die musikalische Darbietung deutlich, dass das Jetzt Gewerkschaften braucht und die Zukunft allemal. Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke sagte nach der Begrüßung aller Gäste – allen voran der internationalen Gäste: "Unrecht macht nicht an Grenzen Halt. ver.di steht für Solidarität über Grenzen hinaus – auch deshalb braucht Morgen uns." Get up, stand up, der gewerkschaftliche Kampf ging und geht weiter – an jedem Tag.
Mehr zum Kongress auf den folgenden Seiten, auf unseren Social-Media-Kanälen und auf verdi.de/ueber-uns/bundeskongress-2023
An die Arbeit
Alle vier Jahre kommen rund 1.000 ver.di-Mitglieder zum ver.di-Bundeskongress zusammen. Sie beraten, diskutieren, stimmen ab und wählen. Sie legen fest, wie ver.di in den kommenden Jahren politisch und gesellschaftlich aufgestellt sein wird. Solidarität ist das Wichtigste, was uns miteinander verbindet. Solidarisch sind wir allen voran mit den Interessenvertretungen in Verwaltungen und Betrieben, mit Betriebsräten, denen die Arbeit extrem schwer gemacht wird. Auf dem Kongress sprach auch Ben Doll, der zusammen mit seinen Kolleg*innen zwei Jahre dafür stritt, bei TikTok einen Betriebsrat zu gründen. Im vergangenen Oktober gelang es ihnen. "Es liegt noch viel Arbeit vor uns", sagte er vor den Delegierten. Die liegt jetzt vor uns allen. Gleich morgen geht's weiter mit der Arbeit... pewe