Die elektronische Gesundheitskarte ist heftig umstritten - auch bei ver.di. Die einen hoffen auf eine ver- besserte Gesundheitsversorgung, die anderen fürchten Datenmissbrauch. Ihre Einführung jedenfalls stockt

Umstrittene Technik: Die elektronische Gesundheitskarte

Von Annette Jensen

Laut Gesetz sollte sie schon vor drei Jahren jeder Kassenpatient im Portemonnaie haben: die elektronische Gesundheitskarte. Doch das Vorhaben stockt mal wieder. Geplant war, dass im Pilotbezirk Rheinland bis zum Juni alle 15000 Arztpraxen ein Kartenlesegerät angeschafft haben; bis Jahresende sollten dann alle Mediziner und Apotheken in Deutschland angeschlossen sein. Doch bisher sind gerade einmal 130 Apparate verkauft. Viele Ärzte pochen auf eine freiwillige Teilnahme am Online-Betrieb. Doch ohne Anschlusspflicht macht die neue Karte für die Krankenkassen keinen Sinn.

Die Einschätzungen, was die elektronische Gesundheitskarte bringt, gehen extrem auseinander. Herbert Weisbrod-Frey, Bereichsleiter Gesundheitspolitik bei ver.di, begrüßt das Projekt. Er erwartet, dass die Patienten mehr Macht bekommen: Sie können bestimmen, welche Daten über sie elektronisch gespeichert werden und wer darauf zugreifen darf. "Der Arzt muss die Patienten als Partner akzeptieren." Außerdem gebe es heute jährlich etwa 70000 bedrohliche Zwischenfälle, weil Medikamente von verschiedenen Ärzten verordnet werden, die in Kombination unverträglich seien. Auch hier erhofft sich Weisbrod-Frey Besserung. Ähnlich positiv bewertet die Gesundheitsreferentin des Bundes- verbands der Verbraucherzentralen, Susanne Mauersberg, die Karte. "Die große Chance besteht darin, dass die Patienten endlich mehr Zugriff auf ihre Akten bekommen." Zwar hätten sie dieses Recht schon heute - doch bei Behandlungsfehlern müssten sie oft jahrelang um die Aushändigung der Unterlagen kämpfen.

Technisches Großabenteuer

Demgegenüber bezeichnet der Chaos Computer Club die Gesundheitskarte als "technisches Großabenteuer." Auch Annette Mühlberg, bei ver.di für E-Government zuständig, ist prinzipiell skeptisch, wenn es um die zentrale Speicherung sensibler Daten geht. Zwar soll bei der elektronischen Gesundheitskarte das Zwei-Schlüssel-Prinzip gelten: Nur wenn ein Patient und ein Heilberufler gemeinsam per PIN-Nummer ihre Zustimmung geben, sollen die Daten zugänglich werden. Doch Mühlberg gibt zu bedenken, dass extrem viele IT-Laien am System beteiligt sind: 80 Millionen Versicherte, 127000 Ärzte, 65000 Zahnärzte, 21000 Apotheken und 2100 Krankenhäuser. Außerdem seien Gesundheitsdaten ein äußerst begehrtes Gut. "Datensparsamkeit ist das oberste Gebot, damit Machtstrukturen und -missbrauch gar nicht erst entstehen können", warnt sie. Von Arbeitgebern, über Versicherungswirtschaft bis zur Pharmaindustrie dürfte das Interesse an den Daten groß sein.

Karsten Neumann, der den Arbeitskreis Technik aller Landesdatenschutzbeauftragten leitet, beruhigt: Die Daten würden so unzugänglich sein wie in "einem Atomendlager." Allerdings sind die sensiblen Anwendungsbereiche bisher technisch noch gar nicht entwickelt. "Frühestens in 15 Jahren hat die Karte ihre volle Funktionalität", prognostiziert Neumann. Und ob die gesamte IT-gestützte Infrastruktur überhaupt Sinn macht, stellt auch er in Frage.

In der ersten Phase jedenfalls geht die Einsatzmöglichkeit der elektronischen Gesundheitskarte kaum über die ihrer Vorgängerin hinaus. Neben einem Foto stehen Name, Geburtsdatum, Wohnort und Versichertennummer. Anders als bisher können die Kassen die Daten allerdings online aktualisieren, wovon sie sich erhebliche Kosteneinsparungen erhoffen. Dem dient auch das elektronische Rezept, das die nachträgliche Datenerfassung zur Abrechnung überflüssig machen soll. Erst in der zweiten Phase geht es dann um die Speicherung der Krankengeschichte, der verordneten Medikamente und der Arztbriefe.

Kleine, schlaue Karte

Auch Kosten und Nutzen der elektronischen Gesundheitskarte sind umstritten. Das Gesundheitsministerium und die Gematik GmbH, die das Projekt organisiert, rechnen den Aufwand klein: Gerade einmal 1,6 Milliarden Euro veranschlagen sie für den Aufbau der Infrastruktur. Eine von ihnen in Auftrag gegebene Studie kam zu einem anderen Ergebnis - und sollte deshalb der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Die Unternehmensberatung Booz, Allen, Hamilton hatte im Extremfall über 20 Milliarden Euro Kosten innerhalb von zehn Jahren errechnet, denen möglicherweise nur 7,5 Milliarden Euro Einsparungen gegenüberstehen würden. Fachleute halten die Berechnungen für realistisch. Der IT-Sicherheitsexperte Thomas Maus hatte schon vorher für die erste Phase der Gesundheitskarte ähnliche Zahlen kalkuliert wie die Unternehmensberater - und er prognostizierte auch zahlreiche Pannen, die dann in der Testphase tatsächlich auftauchten. Auch der Wirtschaftsinformatiker Frank Pallas von der Technischen Universität Berlin hält die Erwartungen des Gesundheitsministeriums für "blauäugig". Erfahrungen aus Großbritannien belegten, dass sich sogar bei wesentlich weniger komplexen Systemen die Kosten leicht verfünf- oder versechsfachen.

Solche Warnungen sind gar nicht im Sinne der IT-Industrie. Sie will, dass es endlich voran geht mit der "kleinen, schlauen Karte", wie Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, SPD, sagt. Schließlich schätzt eine EU-Studie das Marktvolumen von Digitalisierungen im Gesundheitswesen auf 60 bis 70 Milliarden Euro.