Der Arbeitsmarkt hat viele Gesichter. Einige davon findet man auf der Website des Projekts

Das Projekt zur neuen Arbeitswelt: Bin ich Arbeit? DER ARBEITSMARKT sammelt Meinungen und Stimmen zum Überleben auf dem Arbeitsmarkt und macht daraus Theater, Songs und Gedichte. Auch in diesem Sommer kann man den Machern an vielen Orten begegnen und sagen, was zu sagen ist – mit ungeahnten Folgen.

Von Jenny Mansch

Die Jungs kommen aus der Schule. Die machen ihren Hauptschulabschluss und dann gehen sie in die Arbeit. So. Wenn ich als Gewerkschaft nicht in der Lage bin, diese Leute für mich zu gewinnen, zu motivieren, dann habe ich keine Überlebenschance. Sehen Sie mal, vergleichbar, wenn ich an 1966 zurück denke, wo ich meine Lehre begonnen habe, da war der Jugendsprecher da und hat gesagt: So, Jungs, passt auf, wir haben ein Jugendheim hier in der Nähe. Da machen wir heute eine richtige Sause. Und da kommt ihr hin. Da seid ihr eingeladen. Ja, da bin ich ja einmal hingegangen und dann bin ich da hängen geblieben. Wo sollen die Leute denn heute hin? Wo ist denn das nächste Jugendheim?

Lyrik der Stimmen

Der Mann, der dies einem der Interviewer von Bin ich Arbeit? erzählt hat, arbeitet heute als Berufsschullehrer für Baumaschinentechnik in Gelsenkirchen und ist 57 Jahre alt. Das lange Gespräch, das man mit ihm geführt hat, haben Gregor Leschig, Uli Penquitt und Leonore Franckenstein aufgeschrieben und auf ihre Website gestellt, zu vielen anderen O-Tönen aus der Bevölkerung, die die Regisseure und Schauspieler/innen bereits eingefangen haben. Teile daraus können jederzeit in einem Theaterstück, einer Lesung oder in einem Song wieder auftauchen und auf der Bühne aufgeführt werden.

Was Sie sagen, kommt auf die Bühne

Der Mann aus Gelsenkirchen hat sonst mit Theater nicht viel am Hut. Aber er arbeitet schon lange und hat den Arbeitsmarkt und seine Moral sich wandeln sehen. Er war Elektriker-Lehrling im Bergbau und erlebte den Niedergang des Ruhrgebiets. Er ging in den Osten und gründete auf einem alten NVA-Gelände eine Berufsschule für Bauschmaschinentechnik. Nach Jahren verließ er sein Unternehmen und wurde zum ersten Mal arbeitslos. Also nahm er seine Erfahrungen aus dem Osten mit in den Westen und unterrichtet heute Azubis - sein Traumjob, weil er da noch längst vergessene Grundsätze vermitteln kann.

Mensch und Arbeitsmarkt - in diesem Spannungsfeld bewegen sich die Geschichten, Meinungen und Anekdoten, die auf www.bin-ich-arbeit.de dokumentiert werden. Da kann Gesagtes plötzlich einen ungeahnten Rhythmus offenbaren und zum Refrain eines eindringlichen Gedichts werden. Manche der Interviews dienen als Grundlage zur Entwicklung eines Theaterstücks. Auch die sind auf der Webseite ein- und nicht nur dargestellt, denn Mitwirkung ist unbedingt erwünscht. Jeder kann und soll ergänzen, eigene Ideen zur Stückentwicklung fügen und so direkt auf die dramaturgische Entwicklung des Stücks Einfluss nehmen. Im Idealfall ergibt sich ein Sittenbild heutiger Arbeitswelten, persönlich erlebt und mit den Mitteln der Kunst gezeigt.

Nicht nur schimpfen

"Es geht uns nicht ums reine Schimpfen", sagt Gregor Leschig, Theaterregisseur, Kulturmanager, Gewerkschafter und einer der Initiatoren des Projekts. "Wir führen schon profunde Gespräche mit den Leuten, weil wir wirklich etwas erfahren wollen." Deshalb stehen sie bei Veranstaltungen mit Absicht immer etwas am Rande. Dort haben sie die nötige Ruhe, um mit- einander zu sprechen. Alle Interviews werden mit Diktaphon aufgezeichnet.

Der Zulauf lässt sich sehen. Mehr als 30 Interviews haben sie allein am vergangenen 1. Mai bei der DGB-Kundgebung in Recklinghausen geführt. Leschig und seine Mitstreiter/innen wollen denen eine Stimme zurückgeben, die auf ihrem Weg durch den Arbeitsmarkt verstummt, verzweifelt, aber auch ermutigt worden sind: Unterwegs vom Job zur Arbeitsagentur zur Maßnahme zur Weiterbildung zur Umschulung... Die Themen und Gesprächspartner sind weder begrenzt noch vorgegeben, auch Unternehmer kommen zu ihnen und schildern ihre Sicht der Dinge.

Gregor Leschig (51) kennt vieles davon aus eigener Erfahrung. Früher hat er mit Bob Wilson an der Berliner Schaubühne gearbeitet, mit Jürgen Flimm und George Tabori in Köln. Ein Jahr vor Obamas "Yes, we can!" inszenierte er das Musical Yes, I will. "Dann habe ich mich auf den langen steinigen Weg freien Künstlertums gemacht", wo er die ganze Pracht der Produktpalette kennenlernte, die heute für Arbeitssuchende im Angebot ist.

"Wenn wir da mit unserem Stand und dem Schild ,Beraten Sie uns!' stehen, reagieren die Leute positiv irritiert. Manche rufen im Vorbeigehen: ,Wir werden schon genug beraten!', zunächst fällt ihnen gar nicht auf, dass sie uns beraten sollen - mit ihren Erfahrungen." Genug aber bleiben stehen und reden.

Buchen Sie jetzt!

Alle drei Hauptinitiatoren sind Mitglieder im Sprecherrat darstellender Künste im Fachbereich 8 von ver.di. An ihre Arbeit gehen sie mit dem Selbstverständnis des Künstlers und setzen ihre Aufgabe, die direkte Interessenvertretung, bewusst auf diesem kreativen Weg um. Damit rutschen sie allerdings auch durch die Maschen der gewerkschaftlichen Organisation. "Sehr dankbar", sagt Gregor Leschig, sind sie für die kleine finanzielle Unterstützung der ver.di-Bundesverwaltung.

Und doch scheint es sich noch nicht genug in den Bezirken herumgesprochen zu haben: Diese Leute kann man buchen. Für wenig Geld, mit großem Effekt in der Öffentlichkeit. Das könnte dem oft verzweifelten Ringen um die richtige Ansprache von gewerkschaftlichem Nachwuchs ein Ende bereiten. Vorreiter ist bereits der Bezirk Lage/Hörste: Hier umrahmt im Mai das Projekt Bin ich Arbeit? DER ARBEITSMARKT das aktuelle Bildungsangebot (siehe Kasten).

Zurzeit ist Leschig unterwegs nach Slowenien, um neue Stimmen zu sammeln. Die Künstler arbeiten an der europäischen Ausweitung ihres Projekts zur neuen Arbeitswelt. Sie tun dies auch für ver.di. www.bin-ich-arbeit.de

Die nächsten Sprechzeiten:

19. Mai 2009: Zu Gast bei ver.di. Rahmenprogramm des aktuellen Bildungsangebots. Im ver.di-Institut für Bildung, Medien und Kunst, Teutoburger-Wald-Str. 105, Lage/Hörste, Tel. 05232/983-400

27. Juni 2009: Lange Nacht der Industriekultur. Ihre Fragen und Visionen auf der Bühne einer alten Industriehalle. Im theater im depot, Immermannstr. 39, in Dortmund, Tel. 0231/982120

Lauter! Für das neue Stück werden weitere Musiker/innen gesucht, die die Stimmen in Musik umsetzen. Tel. 0221/9524802 oder Mail an info@bin-ich-arbeit.de