Ausgabe 03/2010
Verzicht auf Ansprüche
Ungenießbar: Die Vorschläge der Mövenpick-Partei
von Heike Langenberg
Scham, Scheu und fehlende Informationen - das sind nach Ansicht der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftlerin Irene Becker die Gründe, aus denen rund 500 000 Vollzeitbeschäftigte auf staatliche Unterstützung verzichten. Sie arbeiten zu Niedriglöhnen und hätten einen Anspruch auf ergänzende Grundsicherung. Das ist das Zwischenergebnis eines Forschungsprojekts, das die Hans-Böckler-Stiftung fördert.
Rund 400 000 Betroffene machen ihre Ansprüche geltend. Damit kommen auf rund 100 Vollzeitbeschäftigte, die ihren Verdienst mit ergänzendem Hartz IV aufstocken, rund 120, die es nicht tun. Letztere fürchten, durch Hartz IV stigmatisiert zu werden, oder wollen sich nicht mit dem komplizierten Antragsverfahren auseinandersetzen. Einige wissen auch nicht, dass sie diesen Anspruch haben.
Das steht für Becker in einem "auffallenden Kontrast" zu der derzeitigen Diskussion über die Frage, ob sich Arbeit lohnt. "Lohnt sich häufig nicht", argumentiert der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle. Dabei führt er unter anderem eine Kellnerin an, die in ihrem schlecht bezahlten Job angeblich weniger verdient als eine Empfängerin von Arbeitslosengeld II. Doch statt aus dieser Erkenntnis den Schluss zu ziehen, dass die Kellnerin unterbezahlt ist und nur ein gesetzlicher Mindestlohn für eine flächendeckende ausreichende Bezahlung sorgen kann, wollen Westerwelle & Co den Druck auf die Erwerbslosen erhöhen. Sie wollen den Niedriglohnsektor über eine Ausweitung der Hinzuverdienstgrenzen für Arbeitslosengeld-II-Bezieher/innen noch stärker ausweiten - und damit auch Niedriglöhne noch stärker aus Steuergeldern subventionieren.
Dass hinter der von Westerwelle angestoßenen Diskussion politisches Kalkül steht, macht nicht zuletzt eine Untersuchung des Paritätischen Gesamtverbands deutlich - denn Westerwelle unterschlägt Fakten. Damit der Abstand immer gewahrt wird, hat der Gesetzgeber für Niedriglohnbeziehende einen Anspruch auf Wohngeld und - als Eltern Minderjähriger - auf einen Kinderzuschuss eingeführt. Doch die führt Westerwelle nicht an.
Beispielrechnungen aus vielen Bereichen
Jetzt hat der Paritätische Gesamtverband an 196 Beispielen vorgerechnet, dass es immer einen Lohnabstand gibt. Dabei hat er niedrige Einkommen aus Bereichen wie Verkauf, Callcenter, Leiharbeit oder Wachdienst als Vergleich zu den entsprechenden Zahlungen von Arbeitslosengeld II herangezogen.
"Es drängt sich der Verdacht auf, dass hier mit falschen, weil unvollständigen Berechnungen Klima und Politik gemacht werden sollen", kritisiert der Hauptgeschäftsführer des Verbands, Ulrich Schneider, in einer Pressemitteilung. Er bezeichnete diese Unterschlagung als "äußerst dubiose Berechnungen" und sprach von "offensichtlicher Unkenntnis des Sozialrechts".
Dass weder die Hartz-Sätze noch Niedriglöhne zum Leben reichen, unterstreicht eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Danach lebten 2008 rund 14 Prozent der Bevölkerung in Deutschland unter der Armutsschwelle. Das sind 11,5 Millionen Menschen - und rund zehn Prozent mehr als noch zehn Jahre zuvor. "Vor allem junge Erwachsene und Haushalte mit Kindern sind betroffen", sagt Markus Grabka vom DIW.
Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das ist eine Festlegung der Europäischen Kommission. Ein Grund für die hohe Armutsgefährdung von jungen Menschen ist, dass der Einstieg ins Berufsleben häufig nur über schlecht oder gar nicht bezahlte Praktika und prekäre Arbeitsverhältnisse erfolgt. Für Eltern sei es schwierig zu arbeiten, so die Studie, weil entsprechende Kinderbetreuungsmöglichkeiten fehlen. Insbesondere Alleinerziehende mit Kindern seien überproportional häufig betroffen.
Der Wille zur Arbeit ist vorhanden
Der fehlende Wille zu arbeiten ist dabei nicht das Problem: Das DIW hat auch festgestellt, dass 90 Prozent der Hilfebedürftigen anständige Arbeit suchen. ver.di fordert daher einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro pro Stunde sowie darüberliegende Branchenmindestlöhne, ein Recht auf existenzsichernde Arbeit sowie bessere Regelsätze und höhere Kinderzuschläge.