ULRIKE HERRMANN, Wirtschaftskorrespondentin der taz, hat das Buch „Hurra, wir dürfen zahlen“ geschrieben

ver.di PUBLIK | Ist ein Begriff wie Mittelschicht und die Abgrenzung verschiedener Schichten voneinander noch zeitgemäß?

ULRIKE HERRMANN | Die Mittelschicht stellt immer noch die deutliche Mehrheit. Zudem ist sie bei den Wahlen überrepräsentiert, weil die Unterschicht oft gar nicht zur Abstimmung geht. Daneben gibt es noch eine psychologische Seite. Jeder zählt sich zur Mittelschicht. Bittet man gut verdienende Manager, sich auf einer Unten-oben-Skala von eins bis zehn einzuordnen, kommen sie auf 6,6 Punkte. Fragt man ungelernte Arbeiter, nennen sie 4,6 Punkte. Selbst sehr reiche Adelige wie Gloria von Thurn und Taxis glauben ernsthaft, sie gehörten zur Mittelschicht. Umgekehrt hält sich die Mittelschicht tendenziell für reicher, als sie ist. Diese Verwirrung führt dazu, dass die Mittelschicht immer auf der Seite der Eliten agiert und Sozial- und Steuerreformen durchwinkt, die vor allem die Reichen privilegieren.

ver.di PUBLIK | Damit sägt die Mittelschicht an dem Ast, auf dem sie sitzt. Warum merkt sie das nicht?

HERRMANN | Deutschland ist ein reiches Land, aber versuchen Sie mal, jemanden zu finden, der von sich sagt, er sei reich. Für die wahre Mittelschicht ist daher sehr schwer zu erkennen, wer wirklich reich ist. Zur Verwirrung trägt auch bei, dass es kaum Daten über die Reichen gibt. Das Statistische Bundesamt erfasst keine Haushalte, die über ein Nettoeinkommen von mehr als 18 000 Euro im Monat verfügen. Billionen verschwinden aus der Statistik. Niemand weiß, bei wem sie landen.

ver.di PUBLIK | Muss die Mittelschicht jetzt Existenzängste bekommen?

HERRMANN | Die Mittelschicht hat tatsächlich starke Ängste - allerdings passen sie nicht immer zur Realität. So ist eine häufige Angst, dass Akademiker als Taxifahrer oder in der Arbeitslosigkeit enden. Dabei sind Akademiker in der Regel vollbeschäftigt, und es passiert relativ selten, dass Menschen, die zur Mittelschicht gehören, bei Hartz IV landen. Der eigentliche Abstieg findet dadurch statt, dass die Reallöhne permanent sinken. Leute, die Vollzeit arbeiten und von Arbeitslosigkeit gar nicht bedroht sind, müssen erleben, dass sie mit ihrem Reallohn in die Nähe der Hartz-IV-Empfänger rutschen. Daraus entsteht dann das Gefühl, dass Hartz-IV-Empfänger zu viel bekommen.

ver.di PUBLIK | Bedeutet das, dass die Mittelschicht eine Abschottungstendenz nach unten hat?

HERRMANN | Diese Tendenz ist ganz deutlich. Ständig flammen Diskussionen auf, in denen immer die gleichen Vorwürfe erhoben werden, zuletzt vom FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle: Langzeitarbeitslose würden alle schwarz arbeiten, wollten gar nicht arbeiten oder machten es sich mit vielen Kindern in der sozialen Hängematte bequem. Alle drei Behauptungen sind empirisch falsch. Trotzdem werden diese Vorurteile intensiv gepflegt. Die Mittelschicht muss verstehen, dass diese Abgrenzung nach unten ihr selbst schadet. Sie geht dann eine fatale Allianz mit den Eliten ein: Die Mittelschicht ist dann plötzlich dafür, die Steuern zu senken, weil sie das Gefühl hat, von den Steuern würde sowieso nur die angeblich faule Unterschicht profitieren. Dabei merkt sie gar nicht, dass die Steuersenkungen vor allem den Reichen nutzen.

"Es passiert relativ selten, dass Menschen, die zur Mittelschicht gehören, bei Hartz IV landen"

ver.di PUBLIK | Mit ihrem Steuerkonzept spielt sich die FDP als Fürsprecherin der Mittelschicht auf. Ist sie das?

HERRMANN | Nein. Von den FDP-Vorschlägen würden Spitzenverdiener am meisten profitieren. Das ist das Prinzip aller Steuersenkungen. Gleichzeitig wird nie gefragt, wo das Geld herkommen soll. Man kann den Staat ja nicht einfach abschaffen. Man braucht die Polizei, die Schulen, die Verkehrswege. Daher muss das Geld anders aufgebracht werden. Meistens werden dann die indirekten Steuern erhöht, wie etwa die Mehrwertsteuer. Diese Erhöhung trifft die unteren Einkommensgruppen überproportional stark.

ver.di PUBLIK | Was müsste die Mittelschicht Ihrer Meinung nach tun?

HERRMANN | Erstmal muss sie die Wahrnehmung dafür zurückgewinnen, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist. Man muss wegkommen von der Idee, dass alle Mittelschicht sind, die arbeiten - und sonst gibt es nur noch die schrecklichen Arbeitslosen. Arbeitnehmer gegen Arbeitslose - das ist eine seltsame Vorstellung von Klassenkampf, aber so findet er im Moment statt. Die extremen Vermögensunterschiede werden dabei völlig übersehen. Den zehn Prozent der Reichsten in Deutschland gehört fast alles: 61 Prozent des Volksvermögens und 36 Prozent des Volkseinkommens. Die Mittelschicht hingegen hat faktisch fast gar kein Vermögen. Diese extreme Ungleichheit sollte man einfach mal zur Kenntnis nehmen und danach handeln.

ver.di PUBLIK | Welche Schlüsse sollte man daraus für das weitere Vorgehen ziehen?

HERRMANN | Man sollte die direkten Steuern, die nach Einkommen erhoben werden, erhöhen, und zwar so, dass es vor allem die Spitzenvermögen und die Spitzenverdiener trifft. Was mich wirklich umtreibt ist die Gefahr, dass die enormen Kosten der Finanzkrise an der Mittelschicht hängen bleiben, wenn sie so weitermacht wie bisher. Von den Rettungspaketen zur Finanzkrise hat nur profitiert, wer Vermögen besitzt - und das sind nur die oberen 30 Prozent der Gesellschaft. Sie müsste man daher besonders stark zur Kasse bitten.

INTERVIEW: Heike Langenberg

Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht, Westend Verlag, Frankfurt/ Main, 223 Seiten, 16,95 €, ISBN 978-3938060452

Wer zählt zur Mittelschicht?

Der- oder diejenige, die 70 bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens bezieht. Das bedeutet zwischen 1 000 und 2 200 Euro netto pro Monat für Singles, bei einer Familie mit zwei kleinen Kindern zwischen 2 100 und 4 600 Euro. Im Jahr 2000 zählten 62 Prozent der Deutschen zur Mittelschicht, das waren 49 Millionen Menschen. 2006 waren es nur noch 54 Prozent und damit 44 Millionen Menschen.Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

"Es passiert relativ selten, dass Menschen, die zur Mittelschicht gehören, bei Hartz IV landen"

Wer zählt zur Mittelschicht?

Der- oder diejenige, die 70 bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens bezieht. Das bedeutet zwischen 1 000 und 2 200 Euro netto pro Monat für Singles, bei einer Familie mit zwei kleinen Kindern zwischen 2 100 und 4 600 Euro. Im Jahr 2000 zählten 62 Prozent der Deutschen zur Mittelschicht, das waren 49 Millionen Menschen. 2006 waren es nur noch 54 Prozent und damit 44 Millionen Menschen.Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung