Ausgabe 01/2011-02
Notunterkünfte für Erstsemester
Weil nach und nach alle Bundesländer ihr Abitur auf zwölf Schuljahre verkürzen, steigt die Zahl der Studienanfänger weiter. Doch die Studienplätze für sie reichen nicht
Lea gehört zu den ersten. Mit 18 Jahren machte sie im vergangenen Jahr ihr Abi an einem Hamburger Gymnasium. Zwölf Schuljahre lagen hinter ihr. Fast 13000 Schülerinnen und Schüler legten 2010 ihre Abiprüfung in der Hansestadt ab. Normalerweise sind es nur rund 6500. Die doppelte Anzahl an Abiturienten/innen kam dadurch zustande, dass einmalig eine 13. und eine zwölfte Klasse parallel ihr Abi bestritten.
Bayern wird das in diesem Jahr nachmachen. In den beiden folgenden Jahren führen die beiden bevölkerungsstarken Länder Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen das Abitur nach der zwölften Klasse ein. Bis zum Jahr 2016 werden alle Bundesländer ihre Gymnasien auf zwölf Schuljahre umgestellt haben. Das wird sich auch an den Universitäten bemerkbar machen. Kommen die prognostizierten Studentenwellen auf sie zugerollt, dann wird es nicht mehr so einfach, einen Studienplatz zu ergattern. Studierende werden mit überfüllten Hörsälen und Laborräumen rechnen müssen, mit ausgebuchten Seminaren und allmorgendlichen Warteschlangen vor der Unibibliothek, weil sich alle einen guten Arbeitsplatz im Lesesaal sichern wollen. Und auch die Plätze im Studentenwohnheim werden knapp sein. So manche Uni wie die Universität Tübingen spekuliert schon mit Notunterkünften für Erstsemester.
Lea wollte nach dem Abi nicht sofort studieren. "Ich habe mich entschieden, erst einmal ein Jahr Pause zu machen", erzählt sie. Den Winter über war sie für vier Monate auf einer Südseeinsel und hat dort mit Kindern in einer Vorschule gearbeitet. Diese Erfahrung möchte sie nicht missen. "Ich war doch eh nur zwölf Jahre auf der Schule", meint sie, "da kann ich auch ein Jahr aussetzen." Bis zum Herbst will sie vielleicht noch einmal für drei Monate als Aupair nach Frankreich gehen. Dann möchte sie Architektur studieren.
Einser-Abitur, aber leider keinen Studienplatz
Viele ihrer Hamburger Freunde haben trotz doppeltem Abijahrgang keine Schwierigkeiten gehabt, einen Studienplatz zu finden. Nur ihre beste Freundin hat es nicht geschafft. Sie wollte in Münster Medizin studieren und bekam keinen Studienplatz. Lea versteht das nicht: "Sie hat ihr Abi mit 1,1 gemacht!"
So wie dieser Freundin könnte es ab diesem Jahr mehr Studierwilligen gehen. Denn schon in den vergangenen Jahren sind die Erstsemesterzahlen gestiegen. Waren es 2008 erstmals 385000, die ein Studium aufnahmen, so stieg diese Zahl im vergangenen Jahr auf 423000 Erstsemester an. Damit wuchs der Anteil der Studienanfänger/innen an der gleichaltrigen Bevölkerung von 43 auf 46,1 Prozent. Erreichen wollte die Regierung einen Anteil von 40 Prozent. Doch der ist inzwischen weit überschritten. Insgesamt studieren derzeit rund 2,2 Millionen Menschen an Deutschlands Universitäten. Bis 2014, so prognostiziert die Kultusministerkonferenz (KMK), wird diese Zahl auf 2,7 Millionen ansteigen.
Die Politik rechnet damit, dass rund 24 Prozent aller Studienanfänger/innen ihr Studium wieder abbrechen. Bund und Länder haben sich daher in ihrem Hochschulpakt II darauf verständigt, 275000 zusätzliche Studienplätze bis 2015 zu schaffen. Kosten soll das rund sieben Milliarden Euro, pro zusätzlichem Studienplatz werden 26000 Euro angesetzt. Finanziert wird dies zur Hälfte vom Bund, zur anderen Hälfte von den Bundesländern.
Hinzu kommt ganz aktuell auch noch die Aussetzung der Wehrpflicht. Hier rechnet die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern (GWK) mit 34000 bis zu 59000 zusätzlichen Studienanfängern. Im Dezember vergangenen Jahres wurde daher in einem Regierungschefbeschluss festgelegt, dass auch dieser neue Bedarf im Rahmen des Hochschulpakts finanziert werden soll. Genaue Summen wurden noch nicht festgelegt.
"Das wird hinten und vorne nicht reichen", befürchtet Iris Todtenberg, zuständig für Bildungspolitik bei ver.di. "Die Hochschulen in Deutschland sind seit Jahren chronisch unterfinanziert." All die hehren Ziele von Chancengleichheit in der Bildung seien daher seit Jahren nicht verwirklicht. Um die Universitäten und Fachhochschulen einigermaßen leistungsfähig zu machen, müsse dauerhaft wesentlich mehr Geld in die Hand genommen werden. Der Hochschulpakt sei ja nur eine zeitlich befristete Finanzspritze. Doch: "Wenn das Fundament weiterhin kaputt gespart wird, nutzt die Sanierung im Geschoss auch nichts."
Der Bildungsbericht 2010, der im Auftrag der KMK, der Länder und des Bundesbildungsministeriums alljährlich erstellt wird, gibt ihr Recht. Er konstatiert: "Die Zahl der Studienberechtigten hat sich seit 1980 verdoppelt." Doch weiterhin wird Chancengleichheit an Deutschlands Unis sehr klein geschrieben. Noch immer beeinflusst vor allem das Bildungsniveau des Elternhauses, wer studiert und wer nicht. Und junge Menschen mit Migrationshintergrund studieren noch wesentlich seltener. "Studienanfänger in Deutschland repräsentieren keineswegs einen Bevölkerungsquerschnitt", konstatiert der Bericht. Kinder, deren Eltern verbeamtet, selbstständig oder angestellt sind und selbst einen Hochschulabschluss haben, studieren daher weitaus häufiger als Kinder aus Arbeiterfamilien oder aus Familien mit Migrationshintergrund.