Zahra Mohammadzadeh ist seit 2007 Abgeordnete der Bremischen Bürgerschaft und leitet das Referat „Migration und Gesundheit“ im Gesundheitsamt Bremen. Die Humanbiologin und Gesundheitswissenschaftlerin kommt aus dem Iran und lebt seit 1977 in Deutschland

Dr. Zahra Mohammadzadeh

ver.di PUBLIK | Seit fast 20 Jahren gibt es in Bremen ein Gesundheitsprogramm für Asylsuchende und Migrant/innen. Warum braucht die Stadt das? Macht Migration krank?

Zahra Mohammadzadeh | So sagte man in den 80er und 90er Jahren. Meine Erfahrung zeigt jedoch: Das ist nicht per se der Fall und nicht bei jedem. Natürlich ist Migration auch eine Chance, nicht nur ein Risiko für die Gesundheit, etwa wenn Menschen einer traumatisierenden Situation entfliehen konnten. Gesundheit ist eine zentrale Frage bei der Integration von Menschen. Es ist wichtig, dass sie Zugang zu allen Einrichtungen des Gesundheitswesens, zu Beratungsstellen bekommen und auf Leute treffen, die sie verstehen. Dass dort eben auch Dolmetscher bezahlt werden, von den Krankenkassen. Migrantinnen und Migranten brauchen selbstverständliche Teilhabe, gerade in diesem Bereich. Mehr Integration führt zu mehr Gesundheit. Deshalb haben wir unser Gesundheitsprogramm.

ver.di PUBLIK | Was wird da konkret getan?

Mohammadzadeh | Ausgangspunkt war, dass Anfang der 90er Jahre immer mehr Asylsuchende in die Stadt kamen und man sie im deutschen Gesundheitssystem vor allem als Träger von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose betrachtet und gefürchtet hat. Das war falsch. Zum einen, weil die Asylbewerber, die es bis zu uns schaffen, meist die Gesunden sind, die wirklich Kranken gelangen doch gar nicht bis hierher. Zum anderen, weil wir den Menschen nicht auf ein Infektionsrisiko reduzieren dürfen, sondern ihn als Ganzes sehen müssen. Bremen wurde gemeinsam mit wenigen anderen Städten zum Vorreiter für eine neue Sichtweise. Dazu gehört, dass wir ärztliche Sprechstunden in den vier Unterkünften für Asylbewerber eingerichtet haben. Niemand muss sich erst auf die für Migranten schwierige Suche nach dem richtigen Arzt machen. Die Ärzte vor Ort leiten die Patienten weiter. Unser Programm kümmert sich auch mit darum, dass die Flüchtlinge, die zum Beispiel aus Syrien, Iran oder Afghanistan kommen, nicht mehr wie früher drei oder vier Jahre in den Unterkünften bleiben, sondern nur noch ein Jahr. Dass sie sich so bald wie möglich selbst versorgen und selbst über ihr Leben bestimmen können.

Sie haben die nötige Hilfe bekommen

ver.di PUBLIK | Welche Lebensbedingungen sind schädlich?

Mohammadzadeh | Wenn Menschen nicht arbeiten können oder dürfen, wenn ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden, fühlen sie sich ausgegrenzt. Das macht krank. Wir haben noch zu wenig Kenntnisse und Daten über Krankheit und Gesundheit bei Migrantinnen und Migranten. Man muss genau hinschauen: Welche Menschen meine ich? Türkische Einwanderer, die 50 Jahre hier sind, kamen mit anderen Motiven und Voraussetzungen nach Deutschland als junge Europäer, die hier studieren wollen. Menschen, die in Ex-Jugoslawien oder Syrien einen Krieg erlebt haben, werden noch einmal traumatisiert, wenn ihre Erlebnisse in Deutschland nicht wahrgenommen werden. Kinder, die eine Flucht erlitten haben, sind verunsichert und oft anfälliger für alltägliche Erkrankungen. Wir brauchen zielgruppenorientierte Angebote.

ver.di PUBLIK | Woran denken Sie da?

Mohammadzadeh | An Impfungen, Schwangerschaftsberatung, Aufklärung über HIV und AIDS. Informationen über Pflege, Altenhilfe und Begegnungsstätten für alte Menschen. Alles in mehreren Sprachen. Die diese Angebote brauchen, wissen oft gar nichts darüber. Information ist die halbe Integration.

ver.di PUBLIK | Welche Rolle spielt die Sprachbarriere?

Mohammadzadeh | Eine große, aber wir brauchen nicht nur Dolmetscher und Sprachkenntnisse. Wichtig ist die interkulturelle Öffnung. Im Iran beispielsweise sagt man nicht gleich, dass es einem schlecht geht. Natürlich kann sich niemand im Gesundheitswesen mit den kulturellen Gepflogenheiten und Bräuchen von 150 Nationalitäten auskennen. Aber mehr Offenheit kann man aufbringen. Unsere Drei-Minuten-Medizin, in der Patienten schnell abgefertigt werden, blendet das aus. Das muss sich ändern. Wer im Gesundheitswesen mit Migranten zu tun hat, braucht Zeit. Wer Medizin studiert oder Krankenpfleger wird, braucht Seminare dafür, die in der Ausbildung verankert sind, nicht nur gelegentliche Projekte. Das Thema Migration und Gesundheit muss regulärer Teil der medizinischen Ausbildung werden.

Interview: Claudia von Zglinicki